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Proteste in Frankreich : Der isolierte Präsident

Seine Rentenreform hat Emmanuel Macron zwar durchgesetzt. Doch der Protest reißt nicht ab. Experten sehen das Land in einer demokratischen Krise.

24.04.2023
2024-04-19T13:49:28.7200Z
4 Min

Mit weißem Helm und Schutzkleidung besichtigte Emmanuel Macron Mitte April die Baustelle Notre-Dame. "Nur wenn man Ehrgeiz zeigt, kann man Dinge bewegen", sagte der französische Präsident, der den Wiederaufbau der teilweise abgebrannten Kathedrale innerhalb von fünf Jahren angekündigt hatte.

"Wir werden es schaffen", setzte der 45-Jährige einige Tage später in einer Fernsehansprache nach. Für ihn ist der weltbekannte Kirchenbau ein Symbol für das ganze Land, das er nach seiner umstrittenen Rentenreform wieder nach vorne bringen will. Doch bei den Gewerkschaften kam dieser Vergleich nicht gut an. "Die soziale und demokratische Einheit wird nicht einfach wie eine Kathedrale wieder aufgebaut", reagierte der Chef der Gewerkschaft Unsa, Laurent Escure.

Foto: picture-alliance/AP/Sarah Meyssonnier

Viel Aufbauarbeit erfordert nicht nur die teils abgebrannte Kathedrale Notre-Dame, sondern auch Macrons Ansehen bei den Landsleuten. Wegen der Rentenreform steht der Präsident innenpolitisch unter Beschuss.

Eine absolute Mehrheit hat das Regierungslager nicht mehr

Seit drei Monaten bekämpfen Escure und seine Kolleginnen und Kollegen die Reform Macrons, die das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre heraufsetzt. Für den Präsidenten geht es um das zentrale Projekt seiner zweiten Amtszeit, die vor ziemlich genau einem Jahr begann. Deshalb hält er daran fest, obwohl rund 70 Prozent seiner Landsleute die Rente mit 64 ablehnen. Und obwohl Millionen Menschen in den vergangenen Wochen dagegen demonstrierten.

In der Nationalversammlung musste Macron auf den Verfassungsartikel 49.3 zurückgreifen, um sein Vorhaben ohne Votum durchzubringen. Denn trotz zahlreicher Zugeständnisse konnte Regierungschefin Élisabeth Borne die Stimmen der untereinander zerstrittenen konservativen Républicains nicht garantieren. Eine eigene absolute Mehrheit hat das Regierungslager seit den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr nicht mehr. Ein von der Opposition eingebrachtes Misstrauensvotum überstand Borne nur mit knapper Mehrheit.

Die Rechtspopulistin Marine Le Pen profitiert vom Streit um die Rentenreform

Marine Le Pen, die mit dem Rassemblement National die größte Oppositionspartei in der Nationalversammlung anführt, sprach von einem "völligen Scheitern" Macrons und forderte den Rücktritt des Staatschefs. Die Rechtspopulistin profitiert vom Streit um die Rentenreform und ist inzwischen zur zweitbeliebteste Politikerin nach dem früheren Regierungschef Édouard Philippe aufgestiegen.

Erste Umfragen sehen sie bereits bei den Präsidentschaftswahlen 2027 in Führung. In der hitzig geführten Rentendebatte hielt sich die 54-Jährige geschickt zurück und setzte sich damit vom Linksbündnis Nupes ab, das die Sitzung der Nationalversammlung mit tausenden Änderungsanträgen, Gesängen und Buhrufen störte.

Im Gegensatz zu den Nupes-Vertreterinnen und -Vertretern beteiligte sich Le Pen auch nicht an den Demonstrationen gegen die Rentenreform, die zuletzt von Randalen begleitet waren. Die Gewerkschaften hatten ihr allerdings auch klar gemacht, dass sie nicht erwünscht sei.

Tausende demonstrieren gegen Präsident Macron

Auf der Straße richtet sich der Protest inzwischen nicht nur gegen die Rente mit 64, sondern auch gegen einen Präsidenten, der sich über die demokratisch gewählte Volksvertretung hinwegsetzte. Nach der Entscheidung, den Artikel 49.3 zu nutzen, versammelten sich auf der Pariser Place de la Concorde spontan mehrere Tausend Menschen, die ihrer Wut mit dem Anzünden von Motorrollern, Holzpaletten und Mülleimern Ausdruck verliehen.

Auch nach der Entscheidung des Verfassungsrates, der die Reform im Kern billigte, zogen Tausende Demonstrierende durch Paris und andere Städte. Macron unterzeichnete das Gesetz, das am 1. September in Kraft treten soll, am selben Abend.

Historiker sieht Frankreich in einer demokratischen Krise

"Er sieht nicht, dass das Land in einer demokratischen Krise steckt", kritisierte der Historiker Pierre Rosanvallon im Fernsehen. Er warf dem Staatschef vor, zwar die Gesetzesbuchstaben zu respektieren, aber den demokratischen Geist mit Füßen zu treten. "Wir befinden uns auf einem rutschenden Abhang", warnte der 75-Jährige, für den Frankreich seine schwerste demokratische Krise seit Ende des Algerien-Krieges durchlebt.

Worum es bei der Rentenreform in Frankreich geht

⬆️ Das bisherige Renteneintrittsalter von 62 Jahren wird schrittweise bis 2030 auf 64 Jahre angehoben.

⏱️ Die Zahl der Beitragsjahre steigt. Um volle Bezüge zu erhalten, muss mindestens 43 Jahre gearbeitet worden sein. Das gilt bereits ab 2027.

💰 Die monatliche Mindestrente erhöht sich von derzeit 980 Euro auf 1.200 Euro.



Macron wies den Begriff der demokratischen Krise zurück, den auch der gemäßigte Gewerkschaftschef Laurent Berger verwendete. In seiner Fernsehansprache räumte er zwar ein, dass seine Rentenreform nicht akzeptiert werde. Änderungen oder gar Schuldeingeständnisse unterließ er aber.

Macron plant schon weitere Reformen für das Land 

Stattdessen skizzierte der französische Präsident die nächsten drei großen Themenkomplexe, die er angehen will: Arbeit, Justiz und Sicherheit sowie Schule und medizinische Versorgung. Ähnlich wie bei der Rentenreform droht ihm allerdings auch hier die Blockade im Parlament.

Auch auf der Straße bekommt der Staatschef massiven Gegenwind zu spüren: Bei einem Besuch im Elsass vergangene Woche musste er sich Pfiffe, Buhrufe und das lautstarke Trommeln auf Kochtöpfen anhören. Am 1. Mai wollen die Gewerkschaften zudem einen großen Protesttag veranstalten. Bis dahin wollen sie auch nicht mit Macron verhandeln, der sie zum Gespräch über das Thema Arbeit einlud, nachdem er wochenlang ein Treffen zur Rentenreform abgelehnt hatte.

Am Nationalfeiertag soll eine erste Bilanz gezogen werden

Der zunehmend isolierte Staatschef hat sich selbst eine Frist gesetzt, um das Land wieder zu beruhigen und neue Initiativen etwa für eine Schulreform anzustoßen. "Uns bleiben 100 Tage der Befriedung, der Einheit, des Ehrgeizes und der Aktion im Dienste Frankreichs", sagte Macron in seiner Fernsehansprache. Am Nationalfeiertag am 14. Juli will er eine erste Bilanz ziehen. Die Wunden, die die Rentenreform geschlagen hat, dürften bis dahin allerdings nicht verheilt sein.