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Gunther Krichbaum im Interview : "Die Bundesregierung war immer wieder viel zu zögerlich"

Der Europapolitiker der Union kritisiert die EU-Staaten wegen ihrer Haltung gegenüber Ungarn und Russland und erklärt, warum es einen Verteidigungskommissar braucht.

07.06.2024
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5 Min

Herr Krichbaum, der französische Präsident Macron hat unlängst in seiner Sorbonne-Rede gesagt, wenn in Europa nicht die richtigen Entscheidungen getroffen würden, dann könne Europa auch sterben. Er sagte das angesichts des Erstarkens von Europa-Skeptikern, aber vor allem angesichts der Bedrohung durch Russland. Um damit zu beginnen: Hat das scheidende Europaparlament genug getan, um die Ukraine in ihrem Überlebenskampf zu unterstützen?

Gunther Krichbaum: Ich glaube, das Europäische Parlament hat fast alles getan, was in seiner Macht stand. Fraglich ist vielmehr, ob die Mitgliedstaaten der Europäischen Union getan haben, was in ihrer Macht stand. So stellt Ungarn ständig die Sanktionen gegen den Aggressor Russland in Frage. Die deutsche Bundesregierung war immer wieder viel zu zögerlich. Dass der Bundeskanzler jetzt endlich den Einsatz von aus Deutschland gelieferten Waffen gegen angreifende Truppen auf russischem Staatsgebiet erlaubt, war überfällig, weil so wichtige Nachschubwege unterbunden werden können. Es geht beim Kampf der Ukraine um Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Ein Frieden ohne diese Werte ist wertlos, denn hier stehen im wahrsten Wortsinn die europäischen Werte unter Feuer. Dafür kämpft die Ukraine, und deshalb ist es auch so wichtig, dass wir die Ukraine unterstützen. Man darf nie vergessen, dass ein Wladimir Putin wohl kaum aufhören würde, wenn er die Ukraine erst einmal unterworfen hätte. Vielmehr würde der russische Präsident dann mit anderen Ländern weitermachen. Tatsächlich geht es deshalb um die Zukunft Europas.

Foto: picture alliance/dts-Agentur

Gunther Krichbaum ist seit 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages, er ist europapolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion.

Das Thema äußere Sicherheit wird auch im neuen EU-Parlament ganz oben auf der Agenda stehen. Dabei wird es auch um die gemeinsame Rüstungsbeschaffung und die Stärkung der europäischen Rüstungsindustrie gehen. Für wie wichtig halten Sie die?

Gunther Krichbaum: Ich halte sie für sehr wichtig. Es ist ein Anliegen meiner Partei und Fraktion, dass wir die Position eines Verteidigungskommissars schaffen, der im Kern genau diese Aufgabe hat. Wir brauchen dringend ein leistungsfähiges europäisches Beschaffungswesen und eine Bündelung von Verantwortlichkeiten mit Verteidigungsbezügen in der Kommission. Wir haben in der EU knapp über 180 Waffensysteme, die Amerikaner kommen mit an die 30 aus. Da kann man sich ausmalen, was effizienter und damit auch günstiger ist. Ich begrüße daher ausdrücklich, dass die Europäische Kommission mit der Strategie für die Verteidigungsindustrie (EDIS) und einem ersten Legislativvorschlag zur Umsetzung dieser Strategie (EDIP) hier ambitionierte und konkrete Wege zur Verbesserung vorgeschlagen hat. Es geht aber nicht nur um einen Kommissar für Verteidigung, sondern wir müssen die europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik insgesamt stärken. Ein wichtiges Mittel dafür ist die bessere Nutzung der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO).

Das Ganze ist natürlich auch eine Finanzfrage, und da steht in nächster Zeit wohl die Entscheidung an, ob die EU dazu, ähnlich wie in der Pandemie, eigene Schulden aufnehmen darf. Macron hat sich ja in diesem Sinn geäußert. Wie sollte sich Deutschland dazu stellen?

Gunther Krichbaum: Die Covid-Pandemie und die nachfolgend geschaffenen Finanzierungshilfen durch den Wiederaufbaufonds "Next Generation EU" waren eine Einmaligkeit. Damals war es eine richtige Ausnahme von der Regel, dass es auf EU-Ebene keine gemeinsamen Schulden geben darf. Schließlich ging es darum, die immensen wirtschaftlichen Folgen einer nie dagewesenen Pandemie abzumildern. Am Ende stellt sich die Frage, welche Aufgaben die EU priorisiert. Wenn man die EU neu erfinden würde, würden wir sicher nicht mit der Landwirtschaftspolitik beginnen, was es damals richtig war. Vielmehr stünden heute die Themen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Forschung, Technologie und Innovation im Vordergrund. In diesem Zusammenhang müssen auch die bestehenden Kohäsionsfonds evaluiert werden. So existieren viele Programme, bei denen die Mittel bis zum heutigen Tage gar nicht vollständig abgerufen werden.

Mit dem Krieg vor unserer Haustür hat auch das Thema EU-Erweiterung wieder neue Brisanz bekommen. Neben der Ukraine und Moldau wollen auch mehrere Westbalkan-Länder beitreten. Halten Sie die Aufnahme neuer Mitglieder bis zur nächsten Europawahl, also in den nächsten fünf Jahren, für möglich?

Gunther Krichbaum: Ich wehre mich immer dagegen, konkrete Daten zu benennen, denn nicht der Kalender erfüllt die Voraussetzungen für einen Beitritt, sondern die Reformen, die in den einzelnen Kandidatenländern umgesetzt werden müssen. Am Ende dürfen die Bürgerinnen und Bürger der jeweiligen Länder nicht um die Früchte eines Beitritts gebracht werden. Nur wenn die Reformen erfolgen, beispielsweise im Bereich der Rechtsstaatlichkeit, haben auch die Menschen wirklich etwas davon. Nur dann wird es auch gelingen, ausländische Direktinvestitionen anzuziehen, die Arbeitsplätze schaffen und wirtschaftliches Wachstum ermöglichen. Aber bis alle Kriterien zu hundert Prozent erfüllt sind, werden viele Jahre vergehen. Ob wir allerdings so viel Zeit haben, wage ich zu bezweifeln. Deshalb bin ich dafür, die Methodologie der Beitrittsverfahren zu ändern. Die Beitritte sollten in Zukunft stufenweise erfolgen, natürlich mit dem Ziel einer Vollmitgliedschaft. Zu einer entsprechend engeren Anbindung über Zwischenstufen gehört insbesondere ein "phasing in" in EU-Programme und EU-Politiken wie eine assoziierte Mitgliedschaft ohne Stimmrecht im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GASP/GSVP).


„Wir wissen nicht, wie die US-Wahlen im November ausgehen. Ein Grund mehr, dass sich Europa jetzt auf seine Stärken besinnt!“
Gunther Krichbaum (CDU)

Wäre denn die EU ihrerseits überhaupt in der Lage, neue Mitglieder zu verkraften?

Gunther Krichbaum: In der Tat muss sich die Europäische Union reformieren, um weiter aufnahmefähig zu sein. Wir haben erlebt, wie aufgrund des Einstimmigkeitserfordernisses ein einzelnes Land die gesamte EU aufhalten und seine Vetoposition für handfeste Erpressung nutzen kann. So haben Bulgarien und Griechenland die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien blockiert. Wir brauchen verbindliche Regelungen, die ausschließen, dass offene bilaterale Fragen während des Beitrittsprozesses für Erpressungsversuche instrumentalisiert werden, wie es bei Nordmazedonien der Fall war. Dafür muss der Europäische Rat künftig mit qualifizierter Mehrheit entscheiden können, ob eine Streitigkeit bilateraler Natur ist oder ob sie die EU-Integration insgesamt beträfe.

Um noch einmal auf Präsident Macrons Sorbonne-Rede und seine Sorge zurückzukommen, dass Europa sterben könnte: Teilen Sie diese Sorge nicht?

Gunther Krichbaum: Ich schätze Emmanuel Macron sehr, vor allem, dass er auch immer wieder Ideen auf den Tisch legt, um Europa nach vorne zu bringen. Das zeichnet ihn aus. Aber mir fehlt dann das Echo aus Deutschland, gerade aus der Bundesregierung. Andererseits haben schon andere den Totentanz für Europa eingeläutet. Ich erinnere an Joschka Fischer (Grüne) . Als er Außenminister war und die Europäische Verfassung durch ablehnende Referenden in Frankreich und den Niederlanden scheiterte, sah er Europa am Ende. Allerdings war es dem Mut des damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy zu verdanken, dass weite Teile dieser Verfassung in den späteren Vertrag von Lissabon überführt werden konnten. Trotz des gescheiterten Referendums machte er mit diesem Thema Wahlkampf - und gewann. Ich bin deshalb nicht ganz so schwarzseherisch. Aber man darf auch die Herausforderungen nicht unterschätzen, die wir im geopolitischen Rahmen zu bestehen haben. Russland wurde angesprochen, aber ich will auch China erwähnen. Wir wissen zudem nicht, wie die US-Wahlen im November ausgehen. Ein Grund mehr, dass sich Europa jetzt auf seine Stärken besinnt!

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