Piwik Webtracking Image

Erdogan braucht Erfolge : Kurskorrekturen, aber kein echter Wandel in der Türkei

Nach seiner knappen Wiederwahl plant Präsident Erdogan Reformen. Doch echte Veränderungen sind von ihm nicht zu erwarten.

26.06.2023
2024-01-24T13:02:08.3600Z
4 Min

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan lehnt hohe Zinsen kategorisch ab und hat in den vergangenen Jahren die Zentralbank seines Landes mehrmals gezwungen, die Leitzinsen zu senken. Doch jetzt hob die Zentralbank die Zinsen auf einen Schlag von 8,5 Prozent auf 15 Prozent an - und zwar mit ausdrücklicher Erlaubnis des Präsidenten. Für Erdogan ist das kein Widerspruch. Er plant nach seinem jüngsten Wahlsieg eine Reihe von Reformen. Allerdings schweben ihm Kurskorrekturen vor, die keinen dauerhaften Wandel bringen sollen: Der 69-jährige Staatschef lehnt strukturelle Veränderungen ab, die seine Macht über die Türkei einschränken würden.

Erdogan will Wirtschaft wieder ankurbeln

Der Zinsschritt vom 22. Juni ist das jüngste Beispiel dafür. Erdogan will die türkische Wirtschaft, die unter hoher Inflation und einem wachsenden Außenhandelsdefizit leidet, bis zu den Kommunalwahlen im kommenden Frühjahr wieder flottkriegen. Dann will der Präsident mit seiner Partei AKP die Herrschaft über die Metropole Istanbul und die Hauptstadt Ankara zurückerobern, die er 2019 an die Opposition verloren hatte. Deshalb erlaubte Erdogan seinem neuen Finanzminister Mehmet Simsek, bei den Leitzinsen und anderen finanzpolitischen Entscheidungen das Steuer herumzureißen, zumindest vorübergehend.

Er habe der ersten Zinsanhebung seit mehr als zwei Jahren zugestimmt, sagte der Präsident vor der Entscheidung der Zentralbank - doch niemand solle glauben, dass er jetzt für hohe Zinsen sei. Experten bezweifeln daher, dass Simsek, der Erdogan bereits von 2009 bis 2018 in der Regierung diente, dauerhaft marktwirtschaftliche Grundsätze in der Türkei verankern darf, zumal die Zinserhöhung niedriger ausfiel, als viele Investoren erwartet hatten. Erdogan habe den Kampf gegen Zinsen und andere eigenwillige finanzpolitische Vorstellungen nicht aufgegeben, sondern nur für eine Weile zurückgestellt, meint Wolf Piccoli von der Beratungsfirma Teneo. "Erdonomics ist nach wie vor lebendig und kann jederzeit wieder zubeißen", schrieb Piccoli sarkastisch auf Twitter.

Foto: picture alliance/dpa/TASS/Valery Sharifulin

Ob Fleisch oder Backwaren: Die Preise für Lebensmittel steigen weiter. Um die Inflation einzudämmen, stimmte Präsident Erdogan zuletzt einer Zinswende zu. Doch Experten sehen darin keine dauerhafte Abkehr von der bisherigen Politik.

Ähnliches ist in der Außenpolitik erkennbar. Hinter Erdogans Dauerstreit mit dem Westen und seiner engen Zusammenarbeit mit Russland in den vergangenen Jahren stand die Vorstellung von einer Regionalmacht Türkei, die sich nicht durch ihre Nato-Mitgliedschaft gebunden fühlt und eine eigenständige Außen- und Sicherheitspolitik betreibt. Neuerdings zeigt Erdogan mehr Kompromissbereitschaft mit dem Westen. Im Streit um den Nato-Beitritt von Finnland und Schweden kam Erdogan im Frühjahr der Allianz entgegen, indem er das türkische Veto gegen Helsinki aufhob.

Diese Woche traf sich Erdogans neuer Außenminister Hakan Fidan erstmals mit seinem amerikanischen Counterpart Antony Blinken, um über die noch ausstehende Entscheidung über Schweden zu sprechen. Bei dem Gespräch in London legte Fidan Wert auf die Feststellung, dass die Türkei und die USA "nicht bei allen Themen einer Meinung" seien. Obwohl Ankara mit grünem Licht für Schweden zögert, erwartet die Nato ein Einlenken der Erdogan-Regierung bis zum Gipfeltreffen der Allianz am 11. und 12. Juli in Litauen. Möglicherweise will Erdogan als Gegenleistung für ein Ja zu Schwedens Beitritt die Zustimmung der Nato-Führungsmacht USA zur Lieferung von Kampfflugzeugen an die Türkei herausschlagen. Das türkische Parlament hat seine Sitzungsperiode über den geplanten Beginn seiner Sommerferien am 1. Juli hinaus verlängert. Die Volksvertretung könnte den schwedischen Nato-Beitritt also noch vor dem Nato-Treffen ratifizieren.

Gute Kontakte zu Putin

Eine Lösung im Nato-Streit würde aber nicht bedeuten, dass sich die türkische Haltung zum Westen grundsätzlich ändert. Erdogan will nach Moskauer Angaben "bald" seinen russischen Kollegen Wladimir Putin empfangen - bei keinem anderen Staatschef eines Nato-Landes ist Putin seit dem russischen Angriff auf die Ukraine so willkommen wie bei Erdogan. Dass Putins Besuch vorbereitet wird, noch während mit der Nato über den schwedischen Beitritt gestritten wird, zeigt die "transaktionale" Natur von Erdogans Außenpolitik: Die Türkei arbeitet mit dem Westen zusammen, wenn es ihren Interessen entspricht, scheut aber nicht davor zurück, Europäer und Amerikaner vor den Kopf zu stoßen. Das gilt auch für den Flüchtlingspakt mit der EU. Erdogan hatte vor drei Jahren tausende Flüchtlinge an die Landgrenze mit Griechenland geschickt, um Europa unter Druck zu setzen. Im vergangenen Jahr warf er den Europäern vor, lediglich anti-türkische "Terroristen" aufzunehmen. Der Präsident könnte das Thema jederzeit erneut auf die Tagesordnung bringen, wenn er sich davon Vorteile verspricht.I


„Die heldenhafte Polizei geht gegen alle vor, die die Werte unserer Gesellschaft missachten.“
Innenminister Ali Yerlikaya

In der türkischen Innenpolitik wird es nach den Wahlen ebenfalls keine grundlegenden Kursänderungen geben. Erdogan kündigte bei seiner Vereidigung am 3. Juni zwar an, als Präsident allen türkischen Bürgern zu dienen. Dabei schloss er seine Gegner in Politik und Gesellschaft - von den Oppositionsparteien bis zu Künstlern und Journalisten - ausdrücklich ein. Erdogans neuer Innenminister Ali Yerlikaya nannte "Recht und Menschenrechte" als einzige Richtschnur seines Handelns.

Doch Erdogans Regierung denkt nicht daran, ihren Kritikern mehr Bewegungsspielraum zuzugestehen. So hindert sie den inhaftierten Menschenrechtsanwalt Can Atalay seit der Wahl im Mai daran, sein Parlamentsmandat anzutreten. Atalay war im vergangenen Jahr wegen Teilnahme an den Gezi-Protesten von 2013 zu 18 Jahren Haft verurteilt worden; weil das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, bewarb sich Atalay aus seiner Zelle heraus für die Linkspartei TIP erfolgreich um einen Parlamentssitz. Aber Regierung und Justiz lehnen seine Freilassung ab.

Lob für Gewalteinsatz der Polizei

Innenminister Yerlikaya lobte den Gewalteinsatz der Polizei gegen LGBTQ-Aktivisten, die sich am 18. Juni in Istanbul zu einer Kundgebung versammeln wollten. Die "heldenhafte Polizei" gehe gegen alle vor, "die die Werte unserer Gesellschaft missachten", sagte der Minister. Auch in Erdogans neuer fünfjähriger Amtszeit wird der Westen seine Schwierigkeiten mit der Türkei haben.

Die Autorin ist freie Korrespondentin in der Türkei.