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Foto: picture alliance / Mariusz Smiejek/dpa
In der nordirischen Hauptstadt Belfast ziehen sich hohe Mauern und robuste Metallzäune durch die Stadt. Sie werden "Friedensmauern" genannt und trennen Stadtviertel mit pro-irischen von solchen mit pro-britischen Einwohnern voneinander.

Vor der Europawahl : Menschen in Nordirland hoffen auf Normalität

Die Konflikte in Nordirland werden seit Jahrzehnten teils gewaltsam ausgetragen. Der Brexit hat neue politische Probleme geschaffen.

22.05.2024
True 2024-06-04T09:24:26.7200Z
6 Min

An den Verkehrszeichen erkennt man, ob man sich in der Republik Irland oder in Nordirland befindet. Im Norden wird die Geschwindigkeit in Meilen gemessen, im Süden in Kilometern. Aber es gibt nur wenige Verkehrszeichen in dieser Gegend, die von Moor und Kalkstein geprägt ist.

Drummully Polyp heißt dieser Ort. Es ist eine irische Exklave, die wie ein Polyp nach Nordirland hineinragt. Wer hierher will, muss durch Nordirland fahren. Ein Stück lang verläuft die Grenze mitten auf der Straße. Wenn man in eine Richtung fährt, ist man in Nordirland, fährt man in die andere Richtung, ist man in der Republik.

Plötzlich war da eine Staatengrenze

Bis zur Teilung Irlands nach dem Unabhängigkeitskrieg spielte das keine Rolle. Doch im Mai 1921 wurden 26 Grafschaften zum "Freistaat Irland", die sechs nordwestlichen Grafschaften, das heutige Nordirland, blieben bei Großbritannien. Plötzlich gab es hier eine internationale Grenze. Nach dem Belfaster Abkommen vom Karfreitag 1998, das Nordirland relativen Frieden brachte, war die Grenze wieder unwichtig. Dann kam der Brexit, und die Grenze spielte erneut eine wichtige Rolle.

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Sie wurde damals so gezogen, dass pro-britische Protestanten eine bequeme Zwei-Drittel-Mehrheit hatten, und das nutzten sie aus: Katholiken, die mehrheitlich für die irische Vereinigung sind, wurden von besser bezahlten Jobs in der Industrie ausgeschlossen, sie bekamen keine Stellen im öffentlichen Dienst und der Zugang zu vielen Bildungseinrichtungen wurde ihnen verwehrt.

Katholiken in Wahlkreisen unterrepräsentiert

Die Wahlkreise wurden so manipuliert, dass Katholiken selbst in Städten wie Derry/Londonderry, in denen sie in der Mehrheit waren, unterrepräsentiert blieben. Ferner war das Wahlrecht bei Kommunalwahlen an Hauseigentum gebunden, was bedeutete, dass manch protestantischer Ladenbesitzer bis zu 40 Stimmen hatte, während viele Katholiken leer ausgingen.

Dagegen formierte sich Ende der 1960er Jahre die Bürgerrechtsbewegung. Sie forderte gerechte Job- und Wohnungsvergabe sowie Wahlrecht für alle. Niemand ahnte damals, dass die moderaten Forderungen einen blutigen Konflikt auslösen würden, der in den folgenden 30 Jahren mehr als 3.500 Menschen das Leben kostete.

Friedensverhandlungen mündeten in das Belfaster Abkommen

Als Antwort auf die Demonstrationen der Bürgerrechtler überfielen protestantische Banden unter Duldung und oftmals tatkräftiger Mithilfe der fast ausschließlich protestantischen Polizei die katholischen Viertel. Die Irisch-Republikanische Armee (IRA), die sich zehn Jahre zuvor zur Ruhe gesetzt hatte, grub die Waffen wieder aus, die britische Regierung entsandte ihre Truppen.

Erst in den 1980er Jahren begannen - zunächst im Geheimen - Friedensverhandlungen, die am Karfreitag 1998 in das Belfaster Abkommen mündeten. Darin ist festgelegt, dass die beiden stärksten Parteien auf protestantisch-unionistischer und katholisch-republikanischer Seite den Ersten Minister und seinen gleichberechtigten Stellvertreter ernennen müssen.

Wunsch nach einem vereinigten Irland

Die nordirische Regierung ist eine Zwangskoalition, der alle Parteien angehören, die mindestens neun Sitze haben. In Nordirland stimmten 71 Prozent und in der Republik sogar 94 Prozent für das Abkommen. Die Wähler in der Republik Irland ließen außerdem die Verfassungsparagrafen ändern, in denen Anspruch auf Nordirland erhoben wurde. Im neuen Text ist nur noch von dem Wunsch nach einem vereinigten Irland die Rede, das nur mit Zustimmung einer Mehrheit in Nordirland zustande kommen kann.

Vom Friedensprozess beflügelt, erlebte Belfast einen Aufschwung, der die nordirische Hauptstadt laut Reiseführer "Lonely Planet" in die Liste der "zehn aufstrebenden Städte der Welt" katapultiert hat. Es entstanden gigantische Einkaufszentren, schicke Restaurants und exklusive Hotels. Und die Touristen kamen. Waren es vor dem Abkommen 400.000 im Jahr, sind es inzwischen mehr als fünf Millionen.

Mauern trennen die protestantischen und katholischen Viertel Belfasts

Doch abseits der Innenstadt, in den am stärksten benachteiligten Vierteln, hat eine Annäherung der Bevölkerungsgruppen kaum stattgefunden, das Misstrauen sitzt tief. Dort sind die Mauern noch immer hoch - und nicht nur in den Köpfen: Als das Belfaster Abkommen unterzeichnet wurde, trennten 24 Mauern die protestantischen und katholischen Viertel Belfasts. Heute sind es mehr als 40.

Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Peter Morrison

25 Jahre später: Die "Friedensmauern" in Belfast erinnern an das "Good Friday Agreement". Mit dem Karfreitagsabkommen wurde die seit den 1960ern gewaltgeladene Phase des Nordirlandkonflikts beendet und in eine politische Konsenssuche überführt.

Auch unter den Politikern ist Misstrauen weit verbreitet. Die Regionalregierung wurde von beiden Seiten immer wieder lahmgelegt - weil die irische Sprache keine Fördergelder bekam, wegen eines Finanzskandals, und zuletzt wegen des Brexits, denn dadurch wurde eine Sonderregelung für Nordirland notwendig, damit britische Waren nicht unkontrolliert nach Nordirland und von dort in die EU gelangen konnten.

Nordirland-Protokoll regelt Sonderstellung der Region nach dem Brexit

London und Brüssel einigten sich 2020 auf das Nordirland-Protokoll. Darin ist festgelegt, dass Nordirland im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion bleibt. Wahlberechtigt sind die Nordiren bei den Europawahlen trotzdem nicht. Zweck des Protokolls war es, eine physische Grenze auf der irischen Insel zu vermeiden, zumal das ohnehin nicht zu überwachen wäre. Die Grenze ist rund 500 Kilometer lang, es gibt 275 Straßen, die sie kreuzen.

Stattdessen schuf man eine Zollgrenze in der Irischen See zwischen Nordirland und Großbritannien, denn irgendwo müssen die Waren ja kontrolliert werden. Die Democratic Unionist Party (DUP), die stärkste protestantische Partei, monierte, dass Nordirland dadurch anders behandelt werde als der Rest des Vereinigten Königreichs. Die DUP-Parteiführung beschloss 2022, der Regierung fernzubleiben, solange das Nordirland-Protokoll bestehe. Dadurch waren die Institutionen lahmgelegt.

Nachbesserungen durch den "Windsor-Rahmenplan"

Damit die DUP in die Regierung zurückkehrte, vereinbarte die britische Regierung 2023 mit der EU eine Neuregelung, den "Windsor-Rahmenplan". Der schaffte die Kontrollen für Waren ab, die aus Großbritannien nach Nordirland kommen - außer die Waren gehen weiter in die Republik Irland, also in die EU. Die DUP hat sich ferner eine "Stormont Brake", eine Bremse, durch das nordirische Parlament, zusichern lassen. So lässt sich jede Veränderung von EU-Regeln für Nordirland verhindern.

Im Februar 2024, genau zwei Jahre nach dem DUP-Boykott, kehrte die Partei in die Regierung zurück. Da bei den Wahlen 2022 Sinn Féin, der ehemalige politische Flügel der inzwischen aufgelösten IRA, aber stärkste Partei geworden war, muss sich die DUP mit dem Amt der stellvertretenden Ersten Ministerin für ihre Kandidatin Emma Little-Pengelly begnügen. Michelle O'Neill von Sinn Féin wurde Erste Ministerin. Zum ersten Mal in der Geschichte Nordirlands stellten die Unionisten nicht den Regierungschef.

DUP fühlt sich durch führende Sinn-Féin-Position gedemütigt

Obwohl das vor allem symbolische Bedeutung hat, empfinden es viele DUP-Mitglieder als Demütigung, hinter Sinn Féin die zweite Geige zu spielen. Symbole haben in Nordirland immer eine große Rolle gespielt und oftmals positive Entwicklungen verhindert. In diese Kategorie fällt auch die "Stormont Brake", denn dadurch entsteht eine Rechtsunsicherheit, die ausländische Investoren möglicherweise abschreckt.

Dabei hatte der Brexit Chancen auf einen Wirtschaftsaufschwung eröffnet, die dem Rest des Vereinigten Königreichs verwehrt blieben, nämlich ungehinderter Handel mit Großbritannien und der EU. Nirgendwo anders wird einem das geboten. Doch wieder einmal hat Symbolik über Pragmatik gesiegt.

Wirtschaftliche Benachteiligung in Nordirland

Bis zur Teilung waren die nordirischen Grafschaften weitaus wohlhabender als der Rest der Insel. 81 Prozent der Wirtschaftsleistung wurden im Norden erbracht, 70 Prozent der Frauen und 32 Prozent der Männer waren in der Leinen-Industrie, im Schiffbau und in der Rüstung beschäftigt - weit mehr als im Süden, wo es ohne die Guinness-Brauerei noch schlechter ausgesehen hätte. Belfast war damals nicht nur die größte, sondern auch die reichste Stadt Irlands.

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Heutzutage haben Kinder der ärmsten 20 Prozent in Nordirland eine Lebenserwartung von nur 53 Jahren. Auch im Bildungsbereich geht die Schere auseinander: In Nordirland, so hat eine Studie des unabhängigen Economic and Social Research Institute in Dublin ergeben, haben 40,7 Prozent der 25- bis 34-Jährigen eine Hochschulausbildung, in der Republik sind es mehr als 55 Prozent. In Nordirland haben 20 Prozent keinen Schulabschluss, in der Republik nur 7,4 Prozent.

Die Gewalt in der Region hat Spuren hinterlassen

Ein Drittel der 16- bis 64-Jährigen in Nordirland hat weder einen Job noch eine Ausbildung. Es ist der höchste Prozentsatz im Vereinigten Königreich. Und die Gewalt hat ihre Spuren hinterlassen. Psychische Krankheiten sind weit verbreitet. Die Suizidrate hat sich seit 1998 mehr als verdoppelt. In den vergangenen 25 Jahren starben mehr Menschen durch Selbsttötung als während des bewaffneten Konflikts.

Die meisten Menschen in Nordirland atmeten auf, als Regierung und Parlament nach zwei Jahren, in denen wichtige Entscheidungen auf Eis lagen, ihre Arbeit wieder aufnahmen. Man hofft, dass es ein Schritt in Richtung Normalität sein könnte. Doch davon ist man noch ein gutes Stück entfernt. Ein Kommentator sagte einmal, dass die Vergangenheit in Nordirland eine große Zukunft habe. 

Ralf Sotschek ist Korrespondent in Irland.