Nach der Parlamentswahl in Syrien : "Eine echte Opposition wird es in diesem Parlament nicht geben"
Das erste Mal seit 53 Jahren Diktatur hat Syrien gewählt. Für den Terrorismusexperten Hans-Jakob Schindler bewegt sich das Land auf einem islamischen Staat zu.
Herr Schindler, erstmals seit dem Sturz von Diktator Assad hat Syrien ein Parlament gewählt, das übergangsweise bestehen soll bis zu einer regulären Wahl in 30 Monaten. Wie demokratisch war dieser Urnengang?
Hans-Jakob Schindler: Eine klassische Wahl war das nicht. Drusen und Kurden waren ausgeschlossen, mit der Begründung, dass ihre Gebiete nicht von der Regierung kontrolliert werden. Auch die anti-islamistische Opposition im Exil konnte nicht teilnehmen. Und ein Drittel der Abgeordneten wird von Übergangspräsident Ahmad al-Sharaa persönlich ausgesucht. Frauen und Minderheiten sind in diesem Parlament stark unterrepräsentiert. Eine echte Opposition wird es im Übergangsparlament also nicht geben. Allerdings war die Organisation der Wahl nach diesem brutalen Bürgerkrieg auch sehr schwierig. Das Land ist völlig zerstört, es herrscht Chaos. Die Regierung weiß oft gar nicht, wo die Menschen wohnen.

Stimmabgabe in einem Wahllokal in Damaskus: Erstmals seit 53 Jahren Diktatur hat Syrien ein Parlament gewählt. 6.000 Mitglieder eines zuvor von der Regierung ernannten Wahlkomitees konnten am 5. Oktober über 1.578 Kandidaten abstimmen.
Hat sie sich deshalb für ein indirektes Wahlverfahren entschieden? Die übrigen, nicht von Al-Sharaa bestimmten 140 Abgeordneten wurden von regionalen Wahlgremien, bestehend aus nur 6.000 syrischen Bürgern, gewählt.
Hans-Jakob Schindler: Das sind die rationalen Gründe. Aber dieses Verfahren hat auch sehr elegant zu einer sunnitischen Dominanz geführt. Alawiten und Drusen haben den Einfluss verloren, den sie jahrzehntelang in Syrien hatten. Ihre Sorge, dass die Regierung unter Al-Sharaa einen sunnitischen Staat aufbauen wird, ist mit dieser Wahl nicht kleiner geworden.
Die Regierungspartei HTS hat eine dschihadistische Vergangenheit. Al-Sharaa schlägt aber inzwischen moderate Töne an und ist im Westen ein gern gesehener Gast. Sind aus Islamisten Demokraten geworden?
Hans-Jakob Schindler: Ich bin da sehr skeptisch. Zum einen kann man nach diesem Bürgerkrieg und fünf Jahrzehnten Diktatur nicht erwarten, dass sich das Land innerhalb von ein paar Monaten nach westlichen Vorstellungen liberal-demokratisch entwickelt. Ich denke, Syrien bewegt sich klar auf einen sehr konservativen islamischen Staat zu. Zum anderen ist Al-Sharaa allein nicht die HTS. Innerhalb seines Machtapparates gibt es nach wie vor viele Islamisten. Die große Gruppe der Uiguren, der Turkistan Islamic Party in Syrien, etwa ist offizieller Ableger von Al-Quaida und hat der Terrororganisation nie abgeschworen.

In der HTS sollen auch viele andere Ausländer sein, darunter Deutsche und Franzosen. Was wollen die für ein Syrien?
Hans-Jakob Schindler: Während des Bürgerkrieges haben sich tatsächlich viele westliche Ausländer der HTS angeschlossen. Und wirklich niemand von denen ist nach Syrien gereist, um einen demokratischen Staat aufzubauen. Zwar hat Al-Sharaa die Gruppen offiziell aufgelöst, aber die Leute sind immer noch da, nun als Mitglieder des Sicherheitsapparats. Und zu was die fähig sind, haben die Massaker an Drusen und Alawiten mit mehr als 2.000 Toten gezeigt. Ich sehe bisher nicht, dass Al-Sharaa effektiv und konkret etwas dagegen tut.
Warum wirft er sie nicht raus?
Hans-Jakob Schindler: Weil er gezwungen ist, die Koalition zusammenzuhalten. Die HTS verfügt über rund 30.000 Kämpfer, die syrischen Kurden aber über 100.000. Die Kurden haben außerdem mindestens so viele Gebiete unter ihrer Kontrolle wie die HTS, sie sind also eine sehr große Minderheit. Wenn Al-Sharaa 5.000 Ausländer ausschließt, zum Beispiel die Uiguren außer Landes schickt, würde das seine Macht weiter schwächen. Nun erwartet die HTS, dass sich die 100.000 kurdischen Kämpfer ihren 30.000 anschließen, das wird zweifellos noch sehr schwierig werden. Man kann nur hoffen, dass das Land nicht wieder in den nächsten Bürgerkrieg abgleitet.
„Niemand von den ausländischen Kämpfern ist nach Syrien gereist, um einen demokratischen Staat aufzubauen.“
Könnte das neue Parlament für stabilere Verhältnisse sorgen?
Hans-Jakob Schindler: Alles, was für mehr Struktur und Ordnung sorgt, ist erstmal gut, nicht nur für Investoren. Die Frage ist, ob das Parlament wirklich etwas entscheiden kann oder es nur eine konsultative Rolle spielen wird wie in vielen arabischen Staaten. Im besten Fall kann es dabei helfen, dass neue politische Kräfte entstehen und nicht alles von einer Partei dominiert wird. Das ist ein wichtiger Faktor für die nächste, reguläre Wahl und die Verfassungsgebung, die ja auch noch ansteht. Man muss wissen: Islamisten sind perfekte Wahlkämpfer, denn sie haben in jedem Dorf ein Wahllokal - die Moschee. Aber neue Gruppierungen haben diesen erheblichen strukturellen Vorteil nicht, sie brauchen Zeit, um sich zu organisieren.