Piwik Webtracking Image

Pflegereform verabschiedet : Fahren auf Sicht

Die Pflegebeiträge steigen zum 1. Juli, Leistungen werden erhöht und sind teils flexibel nutzbar. Den entsprechende Regierungsentwurf beschloss nun der Bundestag.

30.05.2023
2024-03-14T14:04:18.3600Z
4 Min
Foto: picture-alliance/photothek/Ute Grabowsky

Angehörige stemmen einen Großteil der Pflege in der Familie und geraten dabei nicht selten selbst in Not, denn oft müssen sie auf unbestimmte Zeit beruflich zurückstecken.

Mit einem Mix aus Beitragserhöhungen und Leistungsverbesserungen will die Bundesregierung eine Entlastung der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen sowie finanzielle Stabilität in der Pflege erreichen. Die am Freitag mit 377 Ja-Stimmen, bei 275 Nein-Stimmen und zwei Enthaltungen verabschiedete Pflegereform stößt aber nicht nur bei der Opposition auf Kritik, auch Fachverbände rügen, die Leistungserhöhungen für die ambulante und stationäre Pflege reichten nicht aus, um die hohen Kosten zu decken. Von einer langfristig finanziellen Absicherung der Pflege könne auch nicht gesprochen werden.

Allerdings hat die Koalition in den Beratungen in einigen Punkten nachgebessert. Zur Entlastung der pflegenden Angehörigen kommt nun doch die ursprünglich geplante Zusammenführung von Verhinderungs- und Kurzzeitpflege zu einem gemeinsamen Jahresbetrag. Das Entlastungsbudget soll zum 1. Juli 2025 im Umfang von 3.539 Euro flexibel nutzbar sein. Für Eltern pflegebedürftiger Kinder mit Pflegegrad 4 oder 5 steht das Entlastungsbudget schon ab dem 1. Januar 2024 in Höhe von 3.386 Euro zur Verfügung und steigt bis Juli 2025 auf ebenfalls 3.539 Euro an. Zur Gegenfinanzierung soll die ab 2025 geplante Dynamisierung der Geld- und Sachleistungen in der Pflege von 5 auf 4,5 Prozent abgesenkt werden. Der Gesetzentwurf sieht ferner bereits zum 1. Juli 2023 eine Anhebung des Pflegebeitrags um 0,35 Punkte auf 3,4 Prozent vor. Der Beitragssatz wird zudem nach der Zahl der Kinder weiter ausdifferenziert.

Pflege wird größtenteils privat organisiert

Rund 80 Prozent der Pflegeversorgung wird privat organisiert, von Angehörigen, die in dieser Situation nicht nur psychisch extrem gefordert sind, sondern auch finanziell, weil sie nicht selten beruflich kürzer treten müssen. Nach einer Schätzung des Bundesfamilienministeriums kümmern sich vier bis fünf Millionen Privatpersonen um pflegebedürftige Angehörige, wobei zwei Drittel der Pflegenden berufstätig sind.

Es seien vor allem Frauen mittleren Alters, die ihre Angehörigen versorgen und sich nicht selten in einer "Sandwichposition" zwischen Pflege und der eigenen Familie befänden. Unterstützt werden Angehörige von professionellen Pflegediensten, die allerdings oft personell schlecht aufgestellt sind. Pflegefachkräfte werden überall dringend gesucht, aber nicht immer gefunden, die Lücke muss von Angehörigen geschlossen werden. Nach Einschätzung der Interessenvertretung der pflegenden Angehörigen, "wir pflegen!" weist die pflegerische Infrastruktur in nahezu allen Bereichen gravierende Lücken auf. Der Deutsche Pflegerat (DPR) warnte vor einem Zusammenbruch der Versorgungsstrukturen, da die Anzahl der Pflegebedürftigen immer weiter steigt. Experten fordern daher eine grundlegende Reform, damit eine gute Pflege für alle bezahlbar bleibt.

In der Schlussberatung würdigten Redner aller Fraktionen den großen Einsatz pflegender Angehöriger. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) räumte weiteren Reformbedarf ein, warnte aber zugleich davor, die Pflegeversicherung kaputt zu reden. Deutschland habe eine Absicherung in der Pflege, auf die andere Länder verzichten müssten. Die Pflegeversicherung sei trotz aller Defizite großartig, das dürfe nicht kleingeredet werden. "Das ist die Perle unseres Sozialstaates." Die Regierung will bis Ende Mai 2024 Vorschläge für eine breitere Finanzierung der Pflegeversicherung vorlegen.

Union kritisiert halbherzige Reform

Auch Diana Stöcker (CDU) sieht in der Pflegeversorgung eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen des Landes, die letztlich alle betreffe. Sie warf der Regierung vor, eine halbherzige Reform vorgelegt zu haben. "Sie hätten mit Ihrem Gesetzentwurf die Chance zu einem großen Wurf gehabt." Die Pflegestärkungsgesetze der vergangenen Legislatur hätten weiterentwickelt werden können, sagte sie und fügte hinzu: "Das, was Sie uns vorlegen, ist keine Reform, sondern ein dürftiges auf Sicht fahren." Die Union erkenne zwar an, dass das Entlastungsbudget nun doch komme, allerdings komme es spät. Das sei den pflegenden Angehörigen kaum zu vermitteln. Zu begrüßen seien die Modellvorhaben zur Förderung von Unterstützungsmaßnahmen für Pflege im Quartier. Die Kommunen könnten vor Ort am besten den Handlungsbedarf beurteilen und Konzepte entwickeln.

Kordula Schulz-Asche (Grüne) sagte, das Land stehe in der Pflege vor riesigen Herausforderungen. Sie versprach: "Es ist heute nur ein Anfang einer weitreichenden Pflegereform." Jahrelang verpasste Reformen müssten nachgeholt werden.


„Dieses Gesetz ist eine Notoperation an einem schwer kranken Patienten, dem deutschen Pflege- und Gesundheitssystem.“
Thomas Dietz (AfD)

Thomas Dietz (AfD) kritisierte. die erste Erhöhung der Pflegeleistungen seit 2017 stehe in keinem Verhältnis zur Inflation. "Dieses Gesetz ist eine Notoperation an einem schwer kranken Patienten, dem deutschen Pflege- und Gesundheitssystem." Über Jahrzehnte habe die Politik dabei zugesehen, wie dieser Patient an seine Belastungsgrenze komme.

Nicole Westig (FDP) verwies auf die angespannte Finanzlage. "Wir mussten Prioritäten setzen, obwohl wir gerne mehr ermöglicht hätten." Das Umlageverfahren in der Pflegeversicherung stoße an seine Grenzen.

Ates Gürpinar (Linke) sagte, das Gesetz zur Unterstützung und Entlastung in der Pflege verdiene den Namen nicht. Menschen würden belastet, nicht entlastet. "Es ist absurd, was Sie da tun." Dabei lägen die Lösungen für die Pflegefinanzen durchgerechnet auf dem Tisch. Gürpinar forderte: "Lassen Sie uns jetzt umsteuern."

Die Pflegereform im Bundestag

Anhörung zur geplanten Pflegereform: Große Zweifel an der Pflegereform
Experten vermissen bei der von der Bundesregierung vorgeschlagenen Pflegereform ein langfristiges Konzept zur Finanzierung der Pflege.
Eine ältere Frau spielt mit einem Ballon
Finanzierung der Pflegeversicherung: Chronisch klamm
Die Ampel will höhere Beiträge für die Pflege. Im Bundestag wird dazu grundsätzlich über die langfristige Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung debattiert.