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Foto: picture alliance/dpa/Sebastian Gollnow
Juergen Boos spricht während einer Pressekonferenz auf der Frankfurter Buchmesse.

Interview : "Die politische Debatte gehört zur DNA der Buchmesse"

Buchmessen-Direktor Juergen Boos über Künstliche Intelligenz, literarische Entdeckungen und die Frankfurter Buchmesse als Schauplatz politischer Debatten.

14.10.2023
2024-02-06T12:03:52.3600Z
8 Min

Herr Boos, als 1949 die erste Frankfurter Buchmesse nach dem Zweiten Weltkrieg wieder stattfand, waren 200 Verlage und 9.000 Besucher dabei. Heute hat die Messe eine völlig andere Dimension: 2022 wurden 4.000 Aussteller gezählt, 93.000 Fachbesucher und über 80.000 private Besucher. Was macht die Frankfurter Buchmesse trotz aller Veränderungen unverwechselbar?

Juergen Boos: Die Frankfurter Buchmesse war und ist beides: Literaturfestival und Fachmesse. Das macht sie weltweit einzigartig. Ein weitere Besonderheit: Seit der Wiederbelebung ihrer bis ins Mittelalter zurückreichenden Tradition nach dem Krieg ist die Buchmesse auch international ausgerichtet. Bereits 1950 waren Verlage aus dem europäischen Ausland und den USA unter den Ausstellern. Was sich ebenfalls wie ein roter Faden durch die 75 Jahre des Bestehens zieht, ist, dass die Bücherschau neben ihrer Bedeutung als Handelsplattform und Kulturereignis auch immer eine politische Bühne war. Dieser Dreiklang ist das Besondere der Frankfurter Buchmesse.


Foto: Jonas Ratermann
Buchmessen-Direktor Juergen Boos
Seit fast 20 Jahren ist der Verlagsmanager Juergen Boos Chef der weltweit größten Buchmesse.
Foto: Jonas Ratermann

Der 1961 in Lörrach geborene Jürgen Boos ist seit 2005 Direktor und Geschäftsführer der Frankfurter Buchmesse GmbH. Beim Herder Verlag absolvierte er in den achtziger Jahren seine Ausbildung zum Verlagsbuchhändler und studierte später Marketing und Organisationstheorie. Er war Manager unter anderem bei Droemer Knaur und beim Carl Hanser Verlag.

Boos ist Präsident des Vereins Litprom, der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika fördert. 2018 wurde ihm der Orden Chevalier des Arts et des Lettres verliehen.

 

 


In einem äußerst raren Akt hat die Buchmesse Russland im vergangenen Jahr aufgrund des völkerrechtswidrigen Überfalls auf die Ukraine von der Schau ausgeschlossen. Die Ukraine erfuhr als "inoffizielles Gastland" besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung. Wie ist es in diesem Jahr?

Juergen Boos: Die Unterstützung setzen wir fort. Wir stellen wieder Flächen zur Verfügung und haben gemeinsam mit den ukrainischen Verlagen und Autoren, zusammen auch mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth und dem Goethe-Institut ein Programm entwickelt. Russland bleibt ausgeschlossen.

Der Ausschluss bezieht sich weiterhin auf den Nationalstand, dezidiert nicht auf einzelne russische Verlage?

Juergen Boos: Nein. Privatwirtschaftliche Verlage könnten sich theoretisch natürlich präsentieren. Praktisch gibt es aber hohe Hürden. Zu der Frage, ob die Verleger ein Visum bekommen, kommt die Gefahr hinzu: Wer im Literaturbetrieb in Russland arbeitet, steht unter Beobachtung. Dennoch habe ich in den vergangenen Monaten auf Messen im Ausland durchaus russische Verleger getroffen. Diese hatten mal englische, mal maltesische oder zyprische Pässe. Zur Buchmesse werden bestimmt auch einige kommen - wenn auch nur als private Besucher.

In der Vergangenheit gab es immer wieder Ärger um die Präsenz rechter Verlage auf der Buchmesse.

Juergen Boos: Ja, aber in diesem Jahr sind sie so gut wie gar nicht mehr vertreten. Unter den Ausstellern finden sich nur die Wochenzeitung "Junge Freiheit" sowie drei Verlage.

Warum ist ein Ausschluss solcher Verlage, wie im Fall Russlands, denn nicht möglich?

Juergen Boos: Das hat kartellrechtliche Gründe. Die Frankfurter Buchmesse hat als größte internationale Buchmesse eine Monopolstellung. Damit ist sie verpflichtet, alle Verlage, die nach deutschem Recht nicht verboten sind, als Aussteller zuzulassen. Würden wir jemandem, dessen Tun vom Gesetz gedeckt ist, das verwehren, könnte er klagen. Das deckt sich auch mit unserem moralischen Anspruch, für Meinungs- und Publikationsfreiheit einzutreten.

Kritiker sehen aber gerade durch die Verbreitung von rechtsradikalem Gedankengut Meinungsfreiheit und Demokratie gefährdet.

Juergen Boos: Es steht jedem frei, Inhalte zu melden, die er für rassistisch, antisemitisch, gewaltverherrlichend oder pornografisch hält. Wenn Bücher oder andere Medien verboten sind oder nicht an Jugendliche verkauft werden dürfen, weil sie auf dem Index stehen, können wir sie ausschließen.

Prüfen Sie, ob gegen einen Verlag oder eine bestimmte Publikation etwas vorliegt?

Juergen Boos: Wir sind in enger Abstimmung mit der zuständigen Oberstaatsanwaltschaft. Zudem verpflichten wir jeden Aussteller, keine verbotenen Inhalte zu zeigen. Aber wir schicken niemanden durch die Gänge, um das zu überprüfen. Bei Hunderttausenden von Titeln ist das nicht möglich. Die Buchmesse ist keine Zensurbehörde, sondern eine Plattform - eine Plattform für Meinungsaustausch.


„Die Buchmesse ist keine Zensurbehörde, sondern eine Plattform - eine Plattform für Meinungsaustausch.“
Juergen Boos, Buchmessen-Direktor

Es gab Stimmen, die forderten, die Messe solle nicht den Verlagen, sondern lieber der Auseinandersetzung eine Bühne bieten.

Juergen Boos: Aber genau das tun wir doch seit Jahrzehnten! Im Rahmen eines von uns kuratierten Programms beschäftigen wir uns immer wieder mit gesellschaftspolitisch relevanten Themen. Wir haben sogar einen eigenen Raum dafür geschaffen: den Pavilion, der direkt auf dem Messegelände aufgestellt wird. Das ist unsere Bühne für politische Debatten. Die gehören zur DNA der Buchmesse.

Haben die Debatten in den vergangenen Jahren an Härte zugenommen?

Juergen Boos: Nein, harte Debatten gab es auf der Buchmesse von Anfang an. Schon 1950 kam es zu Demonstrationen vor der Paulskirche. 1968 brauchte Franz-Josef Strauß aufgrund von Krawallen Polizeischutz.bei einer Signierstunde. Und die Verleihung des Friedenspreises an den damaligen senegalesischen Staatspräsidenten Senghor löste Straßenschlachten aus. Es ging damals, glaube ich, noch härter zur Sache als heute.

Seit 1988 stellt die Buchmesse jeweils ein "Gastland" in den Mittelpunkt. Im Jubiläumsjahr ist das mit Slowenien ein kleines und für seine Literatur hierzulande eher unbekanntes Land. Was ist das Besondere an seiner Literatur?

Juergen Boos: Eine Besonderheit ist, dass fast 20 Prozent der Produktionen lyrische sind. In welchem Land gibt es das noch? In Deutschland haben Lyrikbände im Schnitt eine Auflage von 800 Exemplaren. In Slowenien mit seinen zwei Millionen Einwohnern liegt sie bei 1.200 verkauften Büchern! Eine weitere Besonderheit ist, dass das Land über viele öffentliche Bibliotheken verfügt - selbst kleine Städte haben tolle Büchereien, die als Kulturort und Treffpunkt funktionieren. Eine mögliche Erklärung für beide Eigenarten:: Der slowenische Staat ist als Träger der Bibliotheken auch der größte Buchkäufer. Und: Er subventioniert damit Verlage - auch die, die Lyrik verlegen.

Wie beeinflusst die Geschichte Sloweniens, das Teil der K.-u.-k-Monarchie und Teil Jugoslawiens war, die Werke slowenischer Autorinnen und Autoren?

Juergen Boos: Slowenien war lange ein Land mit wechselnden Herrschaften und ist bis heute ein Durchgangsland. Schon immer zogen auch Menschen zu und brachten ihre Geschichten, ihre Kultur und Sprache mit. Die kulturelle Szene Sloweniens ist daher traditionell mehrsprachig. Für slowenische Autorinnen und Autoren ist die Vielfalt des Landes identitätsstiftend. Das reflektieren ihre Bücher.


„Ehrengast zu sein, ist Chance und Risiko zugleich.“
Juergen Boos, Buchmessen-Direktor

Wie herausfordernd ist es für ein Land, sich als Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse zu präsentieren?

Juergen Boos: Sehr herausfordernd, denn es geht um weit mehr als die Planung eines Events. Es braucht einen Vorbereitungsprozess, der mindestens drei Jahre vor dem Auftritt mit der Vertragsunterzeichnung beginnt. Das Land verpflichtet sich dabei, im Rahmen eines großen Förderprogramms, Übersetzungen ins Deutsche und andere Sprache zu finanzieren. Diese Titel müssen anschließend an die Verlegerin oder den Verleger gebracht werden. Es braucht also viele Gespräche, viele Begegnungen. Das allein ist schon organisatorisch aufwändig. Schwierig bis schmerzhaft kann aber die Beschäftigung mit der inhaltlichen Frage sein 'Wie wollen wir gesehen werden?'. Wie schief das gehen kann, zeigt der Fall Kataloniens, das sich 2007 als Sprach- und Kulturraum präsentieren wollte. Die Vorbereitung verschliss letztlich fünf Kulturminister und endete in einer Diskussion um Nationalismus in Europa. Ehrengast zu sein, ist Chance und Risiko zugleich. Erfolgreich ist, wem es gelingt, innovativ zu sein und den kulturellen Wesenskern herauszuarbeiten.

Vor Corona zählte die Buchmesse 7.500 Aussteller und 300.000 Besucher. Zuletzt war sie von solchen Zahlen weit entfernt. Ist die Buchmesse ein "Opfer ihrer Digitalisierung" geworden?

Juergen Boos: Nein, das glaube ich nicht. 2019 hatten wir die höchsten Besucherzahlen unserer Geschichte. Es war ein Schock, dass im Jahr danach die Buchmesse überhaupt nur mit digitalen Formaten stattfinden konnte. Dass diese kein zweites Standbein und erst recht kein Ersatz für persönliche Begegnungen ist, war schnell klar. Aber unser digitales Fachprogramm etwa erhöht die Reichweite und fördert sogar die Veranstaltung vor Ort - denn es schafft Zeit für den Rechtehandel, für den die Verlage während der Messetage keine Zeit haben. Wir sind optimistisch, dass wir es dieses Jahr schaffen, etwa 80 Prozent der Besucherzahlen von 2019 zu erreichen - trotz der weltpolitischen Lage: Russland fällt ja komplett aus.

Die weltpolitische Lage hat die Buchbranche nicht unberührt gelassen. Auf Corona folgten Energiekrise, gestiegene Papierkosten und zuletzt sinkende Umsätze. 2022 waren es zwei Prozent minus.

Juergen Boos: In den letzten sechs Monaten hatte die Branche aber schon wieder steigende Umsätze. Und auch in den Pandemiejahren 2020 und 2021 gab es teils sogar ein deutliches Plus - obwohl stationäre Buchhandlungen zeitweise geschlossen hatten. Auswertungen aus Spanien zeigen, dass in der Coronazeit ausgerechnet junge Männer zwischen 15 und 23 mehr Bücher kauften.

Die Zahl der Buchkäufer, auch der jungen, geht in Deutschland aber seit Jahren zurück. Müsste Sie das nicht beunruhigen?

Juergen Boos: Nein. Schauen Sie sich an, was zum Beispiel auf TikTok im "Booktok" los ist. Das manifestiert sich auch in Verkaufszahlen: Die Ausgaben der 16- bis 29-Jährige für Bücher sind zuletzt sehr deutlich um acht Prozent gestiegen. Markus Dohle, der langjährige frühere Geschäftsführer der weltgrößten Verlagsgruppe Penguin Random House sprach oft von den "goldenen Jahren des Publishings". Und er hat Recht, wenn man es weltweit betrachtet. Die Branche macht zwar keine großen Sprünge, aber sie schafft es seit Hunderten von Jahren zu wachsen und sich neue Kanäle zu erschließen.

Vielen kleinen Buchhandlungen in Deutschland geht es trotzdem nicht gut. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels fordert deshalb eine komplette Streichung der Mehrwertsteuer auf Bücher. Unterstützen Sie diese Forderung?

Juergen Boos: Ja. Deutschland hat die größte Buchhandelsdichte der Welt. Neben einigen großen Ketten gibt es unheimlich viele kleine Buchhandlungen. Doch diese Vielfalt ist bedroht. Etliche Buchhandlungen existieren nämlich oft nur aufgrund der Selbstausbeutung und der hohen Motivation ihrer Eigentümer. Sie über eine Mehrwertsteuerstreichung zu unterstützen, halte ich für richtig. Auch eine verlässliche institutionelle Verlagsförderung, etwa in Form von Steuererleichterungen, wäre eine Hilfe. Die Branche hätte sie verdient.

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Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz sorgt auch in der Buchbranche für viel Unruhe: Sehen Sie dabei grundsätzlich eher Chancen oder Risiken?

Juergen Boos: In vielen Verlagen ist der Einsatz von Künstlicher Intelligenz längst Realität. Gerade wenn es um Routineaufgaben geht, überwiegen klar die Vorzüge: Wenn ein Programm zum Beispiel die täglichen Sitzungen protokolliert, spart das Zeit. Kulturelle Inhalte zu erstellen, wird sich Künstliche Intelligenz dagegen schwer tun. Die individuelle Leistung eines Autors oder einer Übersetzerin lässt sich nicht ersetzen. Doch es braucht natürlich Rahmenbedingungen für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz und eine entsprechende Anpassung des Urheberrechts. Noch ist das eine Grauzone. Dass zum Beispiel ChatGPT mit Bücherwissen gefüttert wurde, um sich weiterzuentwickeln - ohne dass es Verträge dazu gegeben hat, ist ein klarer Verstoß gegen das Urheberrecht, gegen den die betroffenen Verlage nun klagen.