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Ingo Petz über das Regime in Belarus : "Die Repressionen sind extrem"

Belarus verschwindet gerade hinter einem neuen Eisernen Vorhang, sagt Buchautor Ingo Petz. Europa sollte etwas gegen die Abhängigkeit des Landes von Russland tun.

11.09.2025
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7 Min
Foto: picture alliance / foto2press

Ingo Petz auf der Leipziger Buchmesse: seit über 25 Jahren beschäftigt sich der Journalist und Autor mit Belarus.

Herr Petz, Sie beschäftigen sich als Journalist seit 25 Jahren intensiv mit Belarus, während es sonst kaum Berichte über das Land gibt. Warum sollten wir die Entwicklungen dort genauer im Blick haben?

Ingo Petz: Belarus fasziniert mich seit Jahrzehnten, weil mir nicht in den Kopf geht, weshalb über die komplexe Kultur und Geschichte dieses Landes bei uns so wenig bekannt ist. Aktuell müsste Belarus viel mehr in die geostrategischen Gedankenspiele eingebunden werden, nicht nur um die politischen Gefangenen zu befreien. Je länger der Krieg gegen die Ukraine dauert, je stärker die Abhängigkeit von Russland wird, desto größer wird auch die Bedrohung, die für Europa von belarussischem Territorium ausgeht.

2021 war das belarussisch-russische Großmanöver Sapad gewissermaßen eine Generalprobe für den Angriff auf die Ukraine. Nun beginnt das nächste Manöver dieser Art. Was ist davon zu erwarten?

Ingo Petz: Offiziell sind die Zahlen der beteiligten Soldaten ja auf 13.000 runtergestuft worden, aber damit muss man sehr vorsichtig umgehen. Der Hintergrund könnte sein, dass der belarussische Präsident Lukaschenka versucht, das Land wieder aus der Isolation und insbesondere der Abhängigkeit von Russland zu holen. Das ist etwas spekulativ, weil bei diesen Manövern natürlich der Kreml das Sagen hat. Aber es passt in das Muster von Lukaschenkas derzeitigen Bemühungen. Die Nachbarstaaten Polen und Litauen sind natürlich in Alarmbereitschaft, weil seit 2022 durch die Abhängigkeit von Russland die Militarisierung des belarussischen Territoriums weit vorangeschritten ist: In Belarus werden russische Truppen ausgebildet, dort wurden strategische Nuklearwaffen stationiert. Und im Zuge des Manövers soll auch der Einsatz atomwaffenfähiger Raketen simuliert werden.


„Belarus könnte von Putin noch immer in diesen Krieg hineingezogen werden.“
Ingo Petz

Wie abhängig ist Belarus heute von Russland?

Ingo Petz: Belarus hat wenig wirtschaftliche Ressourcen, und Lukaschenka hat die Rückendeckung von Russland über Jahrzehnte gebraucht, um sein System am Laufen zu halten. Sein Sicherheitssystem und die Staatsunternehmen, das muss alles finanziert werden - und das war möglich durch billiges Gas und Öl aus Russland, das er teuer in Richtung Westen weiterverkaufen konnte. Aber so fatal und tiefgreifend wie heute war die Abhängigkeit nie. Vor 2020, also den großen Protesten, betrieb Lukaschenka seine "Schaukelpolitik" zwischen West und Ost: Um den russischen Einfluss auszubalancieren, bandelte er mit den Europäern und den USA an. Seit 2020 geht das nicht mehr, weil er diese radikale Repressionsmaschinerie angeworfen hat. Von Putin ist er dafür mit Krediten belohnt worden, aber er hängt nun vollkommen am Tropf des Kremls. Besonders seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sind weitere Stücke der Souveränität von Belarus verloren gegangen.

Kann man die wirtschaftliche Abhängigkeit beziffern?

Ingo Petz: Die Wirtschaft ist mittlerweile komplett auf Russland ausgerichtet. Die Logistik belarussischer Produkte geht zu 70 bis 80 Prozent über russisches Territorium. Zugleich profitiert Belarus extrem von der russischen Kriegswirtschaft: Dort werden Munition, Uniformen, Optik für Hightech-Waffen und so weiter produziert. Andererseits: Wenn in Russland diese Kriegswirtschaft mal zusammenbricht, wird auch Belarus in die Rezession gezogen. Weil es eben anders als früher keine Diversifizierung gibt. Lukaschenka ist deshalb sehr daran interessiert, westliche Sanktionen zumindest abzumildern, insbesondere um das belarussische Kali, das wichtigste Exportprodukt, wieder über den Westen verkaufen zu können. Das geht alles über russische Häfen.

Foto: privat
Ingo Petz
ist Journalist und Autor mit Schwerpunkt Osteuropa. Seit 25 Jahren beschäftigt er sich insbesondere mit Belarus. In diesem Jahr erschien sein Buch „Rasender Stillstand”. Seit 2020 ist Petz Redakteur für das Osteuropa-Projekt dekoder.
Foto: privat

Lukaschenka wurde gerade in einer Scheinwahl zum siebten Mal Präsident. Was ist fünf Jahre nach den großen Protesten übrig von der Zivilgesellschaft? Wo sind die Hunderttausenden, die damals protestiert haben?

Ingo Petz: Es waren ja nicht nur Hunderttausende. Das war wahrscheinlich einer der größten Aufstände der vergangenen Jahrzehnte. Seriöse Zahlen belegen, dass bis Oktober 2020 1,5 Millionen Menschen mindestens einmal auf der Straße waren - das ist riesig in einem Land mit damals 9,4 Millionen Einwohnern. Der proaktive Teil dieser Protestwelle, etwa 600.000 Menschen, musste ins Exil fliehen, was natürlich zu den Wirtschaftsproblemen und der Abhängigkeit von Russland beiträgt. Es gab sogar eine Rückkehrkommission der Regierung, was zeigt, wie prekär die Lage ist. Die hat aber nicht funktioniert, weil die Menschen Lukaschenka nicht trauen. Stattdessen führen viele im Exil diesen Impuls der politischen Selbstermächtigung von 2020 weiter: Es gibt neu gegründete Nichtregierungsorganisationen und Kulturprojekte, und es gibt die politische Führung der Exilanten unter Swetlana Tichanowskaja.

Gibt es in Belarus selbst noch irgendwelche Freiräume?

Ingo Petz: Nein. Die Repressionen dort sind so extrem, dass man sich das hier wahrscheinlich nicht vorstellen kann. Über 60.000 Menschen wurden seit 2020 verhaftet, es gab etwa 8.000 Strafprozesse. Und bis heute werden noch immer fast täglich Menschen verhaftet und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, es reicht schon ein Like auf einer vom Regime als extremistisch eingestuften Facebook-Seite. Die Regierung will den Impuls, politische Verantwortung zu übernehmen, nicht nur zurückdrängen. Nein, er soll aus den Köpfen entfernt werden. Deshalb läuft neben der Repression eine Ideologisierungswelle durchs Land, auch in den Schulen.


Ingo Petz:
Rasender Stillstand.
Belarus - eine Revolution und die Folgen.
edition.fotoTapeta,
Berlin 2025;
192 S., 15,00 €


Und was bekommen die Menschen da eingetrichtert?

Ingo Petz: Früher bemühte sich das Regime, eine demokratische Fassade aufrechtzuerhalten: Es gab einige unabhängige Medien, eine minimale Opposition. Das ist vorbei. Die Propaganda geht seit dieser Fake-Wahl im Januar 2025 so: Diktatur ist cool, Demokratie verursacht nur Chaos und ist wenig effizient. Unser "Bazka", also Väterchen, wie Lukaschenka genannt wird, ist ein cooler Hund. Die Leute, die 2020 auf die Straße gegangen sind, werden sich dem nicht anschließen. Aber je länger die Diktatur dauern wird, desto mehr wird sie die nachkommenden Generationen prägen.

Gelingt es denn Frau Tichanowskaja und den anderen Exilanten, den Kontakt zu den Belarussen im Land zu halten?

Ingo Petz: Das wird immer schwieriger. Die belarussische Gesellschaft verschwindet gerade hinter dem neuen Eisernen Vorhang. Die Menschen haben große Probleme, Schengen-Visa zu bekommen, Polen und Litauen nehmen Belarussen als Sicherheitsrisiko wahr und schließen Grenzübergänge. Die Menschen fühlen sich alleingelassen, gleichzeitig ist der Weg nach Russland offen, also die Möglichkeit, dort zu arbeiten oder zu studieren. Das ist für junge Menschen verlockend. Und besonders tragisch, denn 2019 war Belarus mal "Schengenvisa-Europameister", und diese Kontakte in London, Paris oder Berlin waren auch ein Impuls für die Proteste 2020.


„Aktuell müsste Belarus viel mehr in die geostrategischen Gedankenspiele eingebunden werden.“
Ingo Petz

Im US-amerikanischen "Time"-Magazin erschien vor kurzem ein Artikel, in dem Lukaschenka sich als "Backchannel" zwischen Trump und Putin präsentiert. Spielt er denn wirklich eine wichtige Rolle?

Ingo Petz: Politisch spielt er eigentlich keine Rolle, also muss er seinen Wert irgendwie steigern. Deshalb sagt er: Keiner kennt Putin so gut wie ich. Wenn ihr ihn verstehen wollt, müsst ihr mit mir sprechen. Aber diese Gespräche im Hintergrund zwischen den USA und Lukaschenka gab es schon unter Biden, und seit Juli 2024 wurden 350 politische Gefangene freigelassen. Lukaschenka hofft, dass ernsthafte Verhandlungen zwischen Trump, Putin und Selenskyj in Minsk stattfinden könnten. Aber alles, was bisher nach außen dringt, sind Verhandlungen über die Freilassung weiterer politischer Häftlinge.

Was unter dem Strich durchaus positiv ist, oder?

Ingo Petz: Auf jeden Fall, denn die Haftbedingungen sind furchtbar. Die Leute kommen psychisch und physisch gemartert aus den Gefängnissen. Acht Menschen sind gestorben. Aber dass Lukaschenka alle 1.300 politischen Gefangenen freilässt, glaube ich nicht, denn er braucht sie für Verhandlungen mit der EU. Deren Sanktionen sind für ihn viel drückender als die der USA, er will sie unbedingt loswerden.

Wäre es richtig, wenn auch die EU wieder mehr Kontakte zum Regime in Belarus suchen würde ?

Ingo Petz: Belarus könnte von Putin noch immer in diesen Krieg hineingezogen werden. Nach der Verfassung von 1994 war Belarus ja de facto neutral, aber das ist aufgehoben worden seit dem Referendum von 2022 und der Stationierung strategischer Nuklearwaffen. Deshalb sollte die EU sich bemühen, dieses Risiko zu minimieren. Solange Lukaschenka eigene Interessen gegenüber Russland hat, sollte eine geschickte Diplomatie versuchen, die Abhängigkeit in irgendeiner Form zu mindern. Auch zum Wohle des Austauschs zwischen den Exilanten und den Belarussen im Land. Denn auch das würde die Chance auf eine Demokratisierung erhöhen.

Moritz Gathmann ist freier Journalist in Berlin.

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