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1848 in Europa : Explosionen überall

Der Historiker Christopher Clark entwirft in seinem neuen Buch ein differenziertes Panorama der europäischen Revolutionen von 1848.

14.10.2023
2024-02-06T12:07:21.3600Z
4 Min
Foto: picture-alliance / akg-images

Revolution in Schwarz-Rot-Gold: Barrikadenkampf in den Straßen von Berlin am 18./19. März 1848 auf einer zeitgenössischen, kolorierten Lithografie.

Das Gedenkjahr 2023 neigt sich langsam dem Ende zu und kaum jemand nahm die Revolutionen wahr, die vor 175 Jahren fast ganz Europa erfasst haben. Bildeten die Aufstände, Proteste und Umwälzungen von 1848 doch einen, wenn auch kurzen, aber heftigen politischen Flächenbrand, den der alte Kontinent bis dahin so noch nicht erlebt hat. Aber die Ursachen, der Verlauf und die Folgen dieser Erhebungen sind im europäischen Vergleich bisweilen so komplex, dass sich die allermeisten Darstellungen zur 48er-Revolution auf die jeweiligen nationalen Ereignisse, Strukturen und Phänomene beschränken. Ganz abgesehen davon, dass sie in den Augen der damaligen Zeitgenossen und vieler Historiker als gescheitert betrachtet und deren besonderer Charakter unterschätzt wird. Schließlich blieben die Fürsten am Ende auf ihren Thronen und es folgten harte Repressionen sowie eine umfassendere Überwachung potenziell revolutionärer Umtriebe.

Clark: Kritischer Chronist der preußischen Geschichte

Der australische und in Cambridge lehrende Historiker Christopher Clark wäre nicht der Autor der provokativen "Schlafwandler" oder der kritisch-konstruktive Chronist der preußischen Geschichte, wenn er auch in dieser über 1.000 Seiten starken Gesamtschau nicht gegen den Strom schwimmen würde. Die Revolutionen seien nicht per se gescheitert und viele Probleme von damals seien auch heute noch aktuell - so seine zentralen Thesen. Man muss nur genau hinschauen und analysieren. Das nimmt er sich vor und betrachtet eine Vielzahl exemplarischer und besonderer revolutionärer Erscheinungen, die jedoch selten auf einen Nenner zu bringen sind, geschweige denn linear oder kausal erklärt werden können. Clark ist sich dieser Herausforderung durchaus bewusst und versucht ideen- und ereignisgeschichtlich sowohl die Sonderwege als auch die verbindenden Pfade der revolutionären Ereignisse freizulegen.

Wirtschaftliche Not und Hunger in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sieht er jedenfalls nicht als Vorboten der Umwälzungen, sondern lediglich als Brandbeschleuniger. Miteinander konkurrierende gesellschaftliche und politische "Ordnungskonzepte" wie etwa der Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus, die Religion und der Nationalismus bilden für ihn den ideellen "Zündstoff", der im Vormärz schließlich zur ersten bedrohlichen Konfrontation mit den alten Mächten führte und im Frühjahr 1848 schließlich "Explosionen" in vielen europäischen Monarchien auslöste. Clark beschreibt die revolutionären Auseinandersetzungen sehr plastisch und macht die Motive sowie die Handlungsspielräume der Akteure auf beiden Seiten der Barrikaden klar erkennbar.

Neuen Parteien fehlte es an Rückhalt

Clark entfaltet ein überwältigendes Panorama der Ereignisse und weist zu Recht darauf hin, dass sich in ganz Europa die Forderungen nach Verfassungen, Freiheitsrechten und demokratischen Strukturen vielfach glichen. Gleichwohl deuteten sich von Anfang an überall erste Risse an und es zeigte sich, dass die Revolutionäre von 1848 auf die mehr oder weniger gewaltsam herbeigeführten Veränderungen weder organisatorisch noch machtpolitisch vorbereitet waren. Der Regimewechsel erfolgte zwar in kürzester Zeit und europaweit in vielfältigen Formen, war aber überall höchst fragil. Den verschiedenen neuen "Parteien" fehlte es schließlich an gesellschaftlichem Rückhalt und Zusammenhalt, um die Macht der alten Regime wirklich zu brechen.

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Clark gelingt es nur bedingt, ein Muster in den verschiedenen revolutionären Bewegungen und der Gegenrevolution zu beschreiben. So bleibt er meist in der parallelen Schilderung der regionalen und nationalen Geschehnisse gefangen. Diese zeigen jedoch, wie disparat sich die politischen Verhältnisse und Reaktionen in den verschiedenen europäischen Regionen darstellten. Vielen Lesern wird hier wohl erstmals bewusst, dass die europäischen Revolutionen von Portugal bis in die Walachei und Russland reichten und auch in den USA, Lateinamerika und Australien ihre Spuren hinterließen. Auch dass in der Folge von 1848 teilweise Verfassungen in Kraft blieben und die Förderung des materiellen Fortschritts den politischen Frieden sichern sollten, ist vielleicht nicht immer bekannt.

Unerklärbare Gleichzeitigkeit der Revolutionen

Die erstaunliche Gleichzeitigkeit der Revolutionen kann Clark jedoch nicht erklären, wohl aber aufzeigen, dass etwa die Fragen nach sozialer Gerechtigkeit oder nach neuen Formen politischer Beteiligung und der gewaltsamen Bedrohung demokratischer Institutionen weiterhin virulent sind. Allerdings hätte er es hier nicht bei oberflächlichen Analogien belassen sollen wie etwa mit dem Vergleich der Erstürmung des Kapitols 2021 und den Tumulten von 1848. Er hätte vielmehr die Strukturen und Verhältnisse von damals mit denen von heute konkreter vergleichen können. Schließlich sind die letzten 175 Jahre nicht spurlos an den Gesellschaften Europas vorübergegangen. Und es wäre interessant zu sehen, wie wir aus den verpassten Chancen, den Dissonanzen, der Unübersichtlichkeit und Uneinheitlichkeit von 1848 lernen und es besser machen können. Clarks Panorama liefert dazu ein breites historisches Wissen, aber keine Perspektiven für die Gegenwart und Zukunft. 

Christopher Clark:
Frühling der Revolution
Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt.
Deutsche Verlags-Anstalt
München 2023; 1.
168 S., 48,00 €