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Bürgerrat Ernährung : Des Volkes Wille

Der Bundestag hat die Vorschläge des Bürgerrates diskutiert. Die Debatte verdeutlichte Schwierigkeiten mit dem Gremium und der Umsetzung der Empfehlungen.

15.03.2024
2024-03-15T16:04:27.3600Z
5 Min

Kostenloses gesundes Mittagessen für Kinder in Schulen und Kitas, mehr Nachhaltigkeit beim Verbrauch von Lebensmitteln und eine Tierwohlabgabe: Der Bundestag hat am Donnerstag über die Empfehlungen des Bürgerrates "Ernährung im Wandel" erstmals beraten. Die Debatte offenbarte vor allem die Uneinigkeit bei der Bewertung der Arbeit von Bürgerräten sowie bei den Zuständigkeiten für die Umsetzung der Empfehlungen.

Foto: picture-alliance/dpa/ZB/Martin Schutt

Empfehlung Nr. 1 des Bürgerrates ist ein kostenfreies, gesundes Mittagessen für Kinder in Kitas und in Schulen.

Zusammen mit Wissenschaftlern, Ernährungsexperten und Fachpolitikern haben 160 ausgeloste Teilnehmer über eine Verbesserung der Ernährungspolitik beraten. Vergangenen Monat hatte das Gremium Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) ein Gutachten mit neun Empfehlungen überreicht. An erster Stelle empfiehlt der Bürgerrat die Einführung "eines kostenfreien und gesunden Mittagessens für alle Kinder in Schulen und Kitas". Der Bund solle dies gemeinsam mit den Ländern finanzieren. Außerdem schlägt das Gremium ein verpflichtendes staatliches Label vor, das ein bewusstes Einkaufen gesunder Lebensmittel erleichtern soll.

Darüber hinaus sollen Supermärkte ab einer Größe von 400 Quadratmetern Verkaufsfläche verpflichtet werden, noch genießbare Lebensmittel zum Beispiel an Tafeln oder andere gemeinnützige Organisationen weiterzugeben. An vierter Stelle steht die Verbesserung der Lebensbedingungen von Tieren und die Finanzierung des Stallumbaus. Vorgeschlagen wird auch eine gesunde, ausgewogene und angepasste Gemeinschaftsverpflegung in Krankenhäusern, Reha-, Senioren- und sonstigen Pflegeeinrichtungen, eine Verbrauchsabgabe zur Förderung des Tierwohls und eine Altersgrenze für Energydrinks. Zudem hat sich der Bürgerrat in seiner Empfehlung darauf geeinigt, dass es mehr Personal für Lebensmittelkontrollen braucht. Dafür soll die Berufsordnung für Lebensmittelkontrolleure novelliert werden.

Beteiligung der Bürger

Für Leon Eckert (Grüne) stellt die Einsetzung von Bürgerräten nicht nur eine "Weiterentwicklung der Demokratie" dar, sondern ermöglicht eine direkte Beteiligung von Bürgern bei gesellschaftspolitisch relevanten Fragen. "Eine selbstbewusste repräsentative Demokratie muss sich vor den Meinungen der Bürger nicht verstecken", sagte Eckert.

Der Bürgerrat "Ernährung im Wandel"

📄 Geht zurück auf den Koalitionsvertrag: In ihrem Koalitionsvertrag hatten SPD, Grüne und FDP vereinbart, neue Formen des Bürgerdialogs zu nutzen, zum Beispiel Bürgerräte.

🤝 2023 beschlossen: Der Bundestag hatte die Einsetzung des Bürgerrats im Mai 2023 beschlossen. Die 160 Teilnehmer wurden ausgelost, um die gesamte Gesellschaft abzubilden.

✔️ Empfehlungen vorgelegt: Der Bürgerrat hat von September bis Januar gearbeitet. Die Empfehlungen sind in einem Bürgergutachten zusammengefasst. 



Renate Künast, ernährungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, erinnerte an das Grundgesetz. "Dort heißt es in Artikel 20 Absatz 2: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch die Legislative, die Exekutive und die Judikative ausgeübt", sagte Künast. Die Berufung und die Einsetzung von Bürgerräten würden sich "nicht für juristische Spiele und Ideologiedebatten eignen". Die Empfehlungen seien deutlich und würden auch soziale Aspekte beim Thema Ernährung in den Vordergrund stellen. "Die Bürgerinnen und Bürger haben uns gezeigt, wo sie der Schuh drückt", sagte Künast.

Dafür erntete Bündnis 90/Die Grünen heftige Kritik von Philipp Amthor (CDU). Der Unionspolitiker machte grundsätzliche Kritik am Vorgehen der Ampel-Koalition zur Einsetzung des Bürgerrats deutlich. Er warnte vor einer Auslagerung von Verantwortung an Kommissionen und "herbeiquotierte Räte" zulasten des Parlaments. Das sei eine gefährliche Tendenz, da das parlamentarische Regierungssystem aktuell "unter starkem Druck" stehe. Anstatt Verantwortung und die Lösung von wichtigen Fragen an Bürgerräte zu delegieren, sei es die Aufgabe der Ausschüsse und des Plenums, Entscheidungen zu treffen.

Keine einfachen Lösungen

Gero Hocker (FDP) schloss sich dem an. Die Einrichtung Bürgerrat suggeriere, dass es im politischen Bereich einfache und schnelle Lösungen für komplizierte Sachverhalte geben könnte. Hocker rief dazu auf, die Vorzüge einer repräsentativen Demokratie herauszustellen. Die Arbeit der Parlamente sei oftmals zeitintensiv, aber sie sei gründlich und durch die Hinzuziehung von Fachleuten gekennzeichnet. "Lassen Sie uns das als selbstbewusste Parlamentarier zum Ausdruck bringen!"

Die Ernährungspolitiker der Union zeigten sich hingegen offen für die Empfehlungen des Bürgerrates. Hermann Färber (CDU), Vorsitzender des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft, machte deutlich, er wolle die Ergebnisse nicht nur diskutieren, sondern auch nach Möglichkeiten suchen, eine Umsetzung zu finden. "Wir dürfen dem Bürgerrat jetzt nicht sagen, was warum nicht geht", erklärte Färber.

Demokratie müsse "gelebt und ausgestaltet" werden, machte Artur Auernhammer (CSU) deutlich. Das Engagement der Bürger im Bürgerrat habe gezeigt, dass die Menschen Eigenverantwortung wollten. Das Gutachten solle "genau gelesen werden", dort sei nachzulesen, dass sich die Menschen gesünder, regionaler und saisonaler ernähren wollen. Das sei nun ein Auftrag an die Politik.


„Es ist Fakt, dass Menschen mit wenig Geld sich eine gesunde und ausgewogene Ernährung nicht leisten können.“
Amira Mohamed Ali (Gruppe BSW)

Auch von der SPD-Fraktion erhielten die Einsetzung des Bürgerrates und die erarbeiteten Empfehlungen viel Zuspruch. Peggy Schierenbeck forderte eine zügige Umsetzung der Vorschläge. Vor allem das kostenfreie Mittagessen in Kitas und Schulen sollten Bund und Länder angehen. Es sei richtig, dass die Zuständigkeit dafür bei den Ländern liege, jedoch sollte es gelingen, bei dieser Frage eine gemeinsame Lösung zu finden. Marianne Schieder (SPD) forderte das Plenum auf, "die Arbeit der Bürger im Bürgerrat ernst zu nehmen und umzusetzen". Die Empfehlungen seien "Abschluss und Auftrag zugleich", das Instrument der Bürgerbeteiligung habe sich als erfolgreich erwiesen, das zeige das "gute und gelungene Bürgergutachten", das der Politik nun vorliegt.

Für Peter Felser (AfD) ist der Bürgerrat nicht das richtige Instrument zu mehr Bürgerbeteiligung , er plädierte für mehr direkte Beteiligungsformate. Zudem könnte der Eindruck entstehen, mit der Einsetzung des Bürgerrates würden die Empfehlungen auch alle umgesetzt. Dabei seien etliche im Bürgerrat diskutierten Fragen "längst Gegenstand jahrelanger Debatten". Ein kostenfreies Mittagessen an Schulen sei zwar "eine gute Sache", aber der Bundestag sei nicht verantwortlich. Zudem stelle sich die Frage: "Wer bezahlt das, und ist das gerecht?" Die Verbrauchsabgabe für mehr Tierwohl wiederum würde Fleisch weiter verteuern. "Wollen wir wirklich, dass Fleisch zum Luxusgut wird?", so Felser.

Linken-Anträge abgelehnt

Amira Mohamed Ali (Gruppe BSW) hält die Vorschläge des Bürgerrates für "sehr vernünftig", vor allem das kostenfreie Mittagessen in Schulen. Sie habe jedoch Zweifel, ob es zur Umsetzung der Empfehlungen komme. "Es ist Fakt, dass Menschen mit wenig Geld sich eine gesunde und ausgewogene Ernährung nicht leisten können", sagte sie. Zehn Millionen Menschen in Deutschland könnten sich derzeit "bestenfalls jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit leisten". Nach Ansicht Mohamed Alis verteuere die Politik der Ampelregierung die Lebensmittel weiter, "das ist in diesen Zeiten ein Skandal", sagte sie.

Ina Latendorf (Gruppe Die Linke) erinnerte daran, dass etliche Fragen, die im Bürgerrat diskutiert wurden, "seit Jahren Gegenstand linker Politik sind". Bereits 2012 habe es den ersten Antrag für die Einführung eines kostenfreien Mittagessens an Schulen gegeben, "dieser und alle weiteren Anträge dazu wurden abgelehnt", sagte Latendorf.

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