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Bürgerbeteiligung legitimiert das Regierungshandeln und macht die Entscheider klüger, sagt Politikwissenschaftler Hans J. Lietzmann.

Partizipation : "Bürgerbeteiligung muss frühzeitig erfolgen und eine Nulloption haben"

Aus Sicht des Demokratieforschers Hans J. Lietzmann sind Bauvorhaben dank Bürgerbeteiligung schneller, billiger und mit weniger Gerichtsverfahren umsetzbar.

13.12.2021
2024-04-04T13:53:18.7200Z
4 Min

Herr Lietzmann, immer mehr Menschen wollen sich bei der Planung von Infrastrukturprojekten oder auch bei Wohnungsbauvorhaben beteiligen. Wie erklären Sie sich den verstärkten Wunsch nach Mitbestimmung?

Hans J. Lietzmann: Wir merken seit 15 Jahren wie sich Instrumente der Bürgerbeteiligung in den Kommunen immer stärker verbreiten, wie das auf die Landesregierungen übergegriffen hat und jetzt mit dem Bürgerrat "Deutschlands Rolle in der Welt" auch auf den Bund. Die Menschen werden subjektivistischer und individueller. Sie binden sich nicht mehr an die Meinung einer Partei oder die der Kirche. Außerdem hat sich der Bildungshorizont der Menschen wesentlich erweitert. Es stehen ihnen viel mehr Informationen zur Verfügung. Wir haben also eine völlig neue soziale Situation: Die Menschen trauen sich die Mitbestimmung zu, und sie erwarten, dass sie in Entscheidungen einbezogen werden.

Hat es auch mit einem steigenden Misstrauen in die Institutionen zu tun?

Hans J. Lietzmann: Das ist sicherlich auch ein Aspekt. Es gibt dieses Misstrauen gegen staatliche Institutionen, gegenüber Parteien aber auch anderen ethischen Verbänden wie Kirchen und Gewerkschaften.

Foto: privat
Hans J. Lietzmann
ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Wuppertal und Direktor des Instituts für Demokratie- und Partizipationsforschung.
Foto: privat

Viele Entscheider sind von dem verstärkten Wunsch nach Bürgerbeteiligung sicherlich nicht begeistert, oder?

Hans J. Lietzmann: Ja, auf den ersten Blick ist das vielleicht eine Erschwernis für die Verwaltungen und wird von ihnen teilweise auch so empfunden. Deren Alleinvertretungsanspruch wird schließlich in Frage gestellt. Kluge Bürgermeister, kluge Verwaltungen und kluge Landesregierungen sind aber längst dazu übergegangen, die Bürgerbeteiligung als Mittel zu nutzen, um letztlich sogar die eigene Macht zu stärken und ihren Handlungsbereich zu erweitern.

Wie ist das zu verstehen?

Hans J. Lietzmann: Es legitimiert das Regierungshandeln und macht die Entscheider auch klüger. Es gibt der Entscheidung Rückhalt.

Das funktioniert aber nicht, wenn das Interesse der mitbestimmenden Bürger dem Vorhaben der Verwaltungen oder Regierungen völlig entgegensteht.

Hans J. Lietzmann: Solche Vorhaben kann die Verwaltung sowieso nicht umsetzen. Projekte, wie etwa die Energiewende, können nicht realisiert werden, wenn die Bevölkerung nicht mitmacht. Die Verwaltung allein kann Innovationen nicht durchsetzen. Wenn die Bevölkerung keine Smart-Homes haben will, wird es auch keine Smart-Homes geben. Es ist sicherlich so, dass manchmal auch die planenden Ingenieure von der Bürgerbeteiligung nicht begeistert sind, weil das aus ihrer Sicht beste Verfahren nicht zum Zuge kommt. Aber das ist der Preis für ihre Durchsetzbarkeit.

In vielen Ballungsgebieten wehren sich Anwohner gegen eine Nachverdichtung in ihren Quartieren. Auf der anderen Seite steht das Interesse der Kommunen, zusätzlichen Wohnraum zu schaffen. Was tun?

Hans J. Lietzmann: Dass die Anwohner nicht begeistert sind, kann ich mir vorstellen. Aber es freuen sich die, die künftig dort wohnen können.

Die sind aber noch nicht da und haben dementsprechend auch keine Stimme.

Hans J. Lietzmann: Deshalb darf man dazu nicht nur die befragen, die davon unmittelbar betroffen sind. Es muss die gesamte Kommune eingebunden werden. Es geht um ein Gemeinwohlinteresse. Die unmittelbar Betroffenen werden sorgfältig angehört. Dann aber wird entschieden, ob deren Einschränkungen zumutbar sind. Oft werden gesellschaftlich ausgewogene Lösungen gefunden, wenn denen, die unmittelbar betroffen sind, mit Alltagsverstand begegnet wird.


„Es ist nachweisbar, dass Bauvorhaben mit Bürgerbeteiligung schneller, billiger und mit weniger Gerichtsverfahren laufen.“
Politikwissenschaftler Hans J. Lietzmann

Wie sieht denn eine optimale Bürgerbeteiligung aus?

Hans J. Lietzmann: Sie muss sehr frühzeitig erfolgen und muss eine "Nulloption" haben: Planung muss auch zurückgenommen werden können. Ansonsten wäre es nur eine Schimäre. Wenn die Bürger erkennen, dass die Verwaltungen gar nicht kompromissbereit in die Gespräche gehen, führt das eher zu einer höheren Unzufriedenheit und einer höheren Ablehnung der Institutionen. Es muss ein ergebnisoffener Prozess sein, bei dem ein Ziel vorgegeben wird - beispielsweise die Schaffung von mehr Wohnraum - und dann nach den besten Lösungen gesucht wird. So sind zum Beispiel aus einem landesweiten Beteiligungsverfahren der Landesregierung Rheinland-Pfalz zum "Miteinander der Generationen", also zu den demographischen Herausforderungen, viele Anregungen für die Verkehrspolitik und den Wohnungsbau realisiert worden. Ebenso in Nordrhein-Westfalen im Falle von kommunalen Restrukturierungen beim Rückbau von Zechen und Tagebauen. Ein Beispiel, wie es nicht geht, ist Stuttgart 21. Da wurde den Bürgern ein fertiger Plan für den Bau des Bahnhofes vorgelegt. Drei Wochen später war das gerichtsfest und jeder, der sich dagegen wenden wollte, handelte rechtswidrig. So ein Verfahren läuft unweigerlich gegen die Wand.

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Was halten sie von dem Einwand, dass Bürgerbeteiligung Planungen verzögert und Bauprojekte verteuert?

Hans J. Lietzmann: Das ist ein gängiges Vorurteil; aber falsch. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist nachweisbar, dass Bauvorhaben mit Bürgerbeteiligung schneller, billiger und mit weniger Gerichtsverfahren laufen. Schon im Planungsprozess werden nämlich viele Hindernisse abgeräumt. Das hat für Investoren möglicherweise geringfügige Einschränkungen zu Folge - dass etwa die Zahl der Gewerbeeinheiten zugunsten von mehr Grünfläche leicht gesenkt wird. Die Ängste, es dauere alles länger, die Bürger regen sich nur auf, verstünden aber nichts von der Materie, sind jedoch unbegründet.