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Alexander Weinlein
Kurz notiert

Um den heißen Brei schreibt Hans-Ulrich Wehler nicht: Die derzeitige deutsche Gesellschaft ist eine Klassengesellschaft - und zwar im Sinne von Max Weber. Sprich: Eine ungleiche Verteilung wirtschaftlicher Macht bedingt eine ungleiche Verteilung der Lebenschancen. Daran könne auch der Versuch in den vergangenen Jahren, den als "marxistisch verpönten Klassenbegriff" durch Sprachkosmetik zu überschminken, nichts ändern. Im Gegenteil: Die Kluft zwischen Arm und Reich, die Konzentration der Vermögen in den Händen weniger habe bedenkliche Züge angenommen. Die Klassengesellschaft offenbare sich aber nicht nur bei den Vermögen, sondern auch bei der Gesundheitsversorgung, den Bildungschancen, auf dem Heiratsmarkt, den Wohnverhältnissen, zwischen Mann und Frau, Jung und Alt, Ost und West.

Für diese die von ihm konstatierte "exzessive Hierarchisierung" der Gesellschaft macht Wehler, einer der renommiertesten deutschen Sozialhistoriker, unter anderem den "Vodoo-Aberglaube" an einen völlig deregulierten und sich selbst steuernden Markt verantwortlich. Die Vertreter dieser Utopie, der selbst sozialdemokratische Parteien in Europa lange erlegen seien, hätten eine anthropologische Konstante geflissentlich ignoriert: Kleine wie große menschliche Verbände, egal ob Familien oder Nationen, "können nur dann auf Dauer friedlich zusammenleben, wenn sie sich einem alleseits akzeptierten Satz von verbindlichen Normen und instiututionellen Regelungen unterwerfen". Für Wehler stellt sich angesichts der beschriebenen Situation nicht weniger als die Frage nach der Legitimation der deutschen Marktgesellschaft und Demokratie. Diese habe bislang auf einer gerechten Verteilung des Sozialprodukts beruht.

Neu sind die von Wehler beschriebenen Verhältnisse nicht. Die Debatte über die größer werdenden Unterschiede zwischen Arm und Reich wird seit geraumer Zeit sehr hitzig geführt. Sein Verdienst ist es, einen wissenschaftlichen Beitrag zur Versachlichung dieser Debatte geliefert zu haben.

Hans-Ulrich Wehler:

Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland

Verlag C.H. Beck, München 2013; 192 S., 14,95 €

Aus Politik und Zeitgeschichte

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