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Kurz notiert

25.03.2013
2023-08-30T12:23:56.7200Z
3 Min

Um den heißen Brei schreibt Hans-Ulrich Wehler nicht: Die derzeitige deutsche Gesellschaft ist eine Klassengesellschaft - und zwar im Sinne von Max Weber. Sprich: Eine ungleiche Verteilung wirtschaftlicher Macht bedingt eine ungleiche Verteilung der Lebenschancen. Daran könne auch der Versuch in den vergangenen Jahren, den als "marxistisch verpönten Klassenbegriff" durch Sprachkosmetik zu überschminken, nichts ändern. Im Gegenteil: Die Kluft zwischen Arm und Reich, die Konzentration der Vermögen in den Händen weniger habe bedenkliche Züge angenommen. Die Klassengesellschaft offenbare sich aber nicht nur bei den Vermögen, sondern auch bei der Gesundheitsversorgung, den Bildungschancen, auf dem Heiratsmarkt, den Wohnverhältnissen, zwischen Mann und Frau, Jung und Alt, Ost und West.

Für diese die von ihm konstatierte "exzessive Hierarchisierung" der Gesellschaft macht Wehler, einer der renommiertesten deutschen Sozialhistoriker, unter anderem den "Vodoo-Aberglaube" an einen völlig deregulierten und sich selbst steuernden Markt verantwortlich. Die Vertreter dieser Utopie, der selbst sozialdemokratische Parteien in Europa lange erlegen seien, hätten eine anthropologische Konstante geflissentlich ignoriert: Kleine wie große menschliche Verbände, egal ob Familien oder Nationen, "können nur dann auf Dauer friedlich zusammenleben, wenn sie sich einem alleseits akzeptierten Satz von verbindlichen Normen und instiututionellen Regelungen unterwerfen". Für Wehler stellt sich angesichts der beschriebenen Situation nicht weniger als die Frage nach der Legitimation der deutschen Marktgesellschaft und Demokratie. Diese habe bislang auf einer gerechten Verteilung des Sozialprodukts beruht.

Neu sind die von Wehler beschriebenen Verhältnisse nicht. Die Debatte über die größer werdenden Unterschiede zwischen Arm und Reich wird seit geraumer Zeit sehr hitzig geführt. Sein Verdienst ist es, einen wissenschaftlichen Beitrag zur Versachlichung dieser Debatte geliefert zu haben.

Hans-Ulrich Wehler:

Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland

Verlag C.H. Beck, München 2013; 192 S., 14,95 €

Wir leben im Zeitalter der europäischen Misstrauensgesellschaften, in einer verfallenen "Scheindemokratie". Verantwortlich gemacht für diese Entwicklung wird eine abgehobene, inkompetente politische Klasse, die eine passive, schweigende Mehrheit manipuliere. Die Aktivisten der Protestbewegungen in Deutschland zeigen sich zutiefst davon überzeugt, dass sie über weit mehr Verstand verfügen als gewählte Parlamentarier und Regierende, die zu Karrieristen und Postenjägern mutiert seien. Auch Lobbyisten und die Medien werden als Grundübel der Demokratie genannt, die ihren Beitrag zur Deformation einer ursprünglich guten Idee leisteten. Diese und ähnliche Aussagen geben einen ersten Einblick in das Stimmungsbild unter den Vertretern der Protestkultur in Deutschland. Nachzulesen sind sie in der empfehlenswerten Studie über "Die neue Macht der Bürger" des Instituts für Demokratieforschung an der Universität Göttingen.

Die Autoren analysierten Motivation und Verlauf der Bürgerproteste: beispielsweise gegen Stromtrassen, fehlende Studienplätze oder Globalisierung und Finanzmärkte. Unter den Aktivisten fanden sie Hausmänner, Teilzeitangestellte, Freiberufler, Schüler, Studierende, Pastoren, Lehrer und "ganz besonders Vorruheständler, Rentner und Pensionäre". Sie alle hätten "entweder reichlich freie Zeit oder doch das Privileg, über ihren Zeithaushalt vergleichsweise individuell und autonom disponieren zu können", lautet der Befund. Und sie verfügten über hohe Bildungsabschlüsse. Beeinflusst worden seien sie durch die Studentenrevolten, die Bewegungen gegen Atomenergie und Mittelstreckenraketen oder die zahlreichen Bürgerinitiativen in den 1970er Jahren.

Dem zivilgesellschaftlichen Ungehorsam spricht der Politologe Franz Walter ein hohes Maß an Legitmität zu: "Ohne den misstrauischen Blick aufgeklärter und aufmerksamer Bürger würden sich politische und ökonomische Macht verselbstständigen und korrumpieren." Dies gelte auch für eine starke parlamentarische Demokratie wie in Deutschland.

Franz Walter (Hg.):

Die neue Macht der Bürger. Was motiviert die Protest- bewegungen?

Rowohlt Verlag, Hamburg 2013; 346 S., 16,95 €