Montagsdemonstrationen : Die Massen gehen auf die Straße
Die DDR-Bürger lassen sich 1989 nicht mehr ruhigstellen. Die Fälschung der Kommunalwahl und die Ausreisewelle heizen die Proteste in Leipzig und landesweit an.
Am 31. August 1989 ist Manfred Hummitzsch, Chef der Leipziger Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), noch zuversichtlich. Der Generalleutnant nimmt mit Kollegen aus anderen DDR-Bezirken an einer Dienstberatung in der Ost-Berliner Stasi-Zentrale teil. Nachdem es während der Urlaubszeit zumindest in der DDR recht ruhig zugegangen war, drohen nun erneut „öffentlichkeitswirksame provokatorisch-demonstrative Handlungen“.
Nach jüngster Zählung der Sicherheitsorgane sind republikweit bereits 160 „feindliche oppositionelle Zusammenschlüsse“ aktiv, denen mehr als 2.500 Personen angehören. In dieser Situation lässt sich Minister Erich Mielke von seinen MfS-Bezirkschefs die Lage vor Ort schildern.
Leipziger Friendensgebete beschäftigen DDR-Spitze
Hummitzsch sagt, in Leipzig stehe die Herbstmesse bevor, da werde es wohl zu Zwischenfällen kommen: „Die Lage ist so, Genosse Minister, nachdem jetzt acht Wochen Pause war, [...] findet jetzt zur Messe am 4. September, 17.00 Uhr das erste Mal wieder dieses operativ relevante ,Friedensgebet' statt.“
Vor den Sommerferien war es regelmäßig im Anschluss an die montägliche Veranstaltung in der Nikolaikirche, die Friedensbewegte, Umweltschützer, Regimekritiker, Ausreisewillige und Neugierige in immer größerer Zahl angezogen hatte, zu Tumulten gekommen. Obwohl Hummitzsch ahnt, dass die Proteste nicht aufhören, ist er überzeugt: „Die Lage wird kompliziert sein, aber ich denke, wir beherrschen sie.“
Mehr als 70.000 Menschen nahmen am 9. Oktober 1989 an der Montagsdemonstration in Leipzig teil. dem Protestmarsch teil. Die Staatsmacht griff nicht, wie von vielen Seiten befürchtet, mit Gewalt ein.
Kurz vor seinem Vortrag hat Mielke im großen Konferenzsaal des Ministeriums noch für Unruhe gesorgt. Er provoziert die versammelten Offiziere mit einer kurzen Frage: „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“ Ein solches Szenario, die Wiederholung des Volksaufstandes von 1953, übersteigt allerdings die Vorstellungskraft der Anwesenden. „Der [17. Juni, der Verf.] ist morgen nicht, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da“, entgegnet ein Offizier dem Minister. Seine Kollegen pflichten ihm bei, sie charakterisieren die sicherheitspolitische Lage durchweg als „stabil“ oder „sehr stabil“.
Wie der 9. Oktober zum “Tag der Entscheidung” für die DDR wird
Tatsächlich sollte es nur 40 Tage nach der Beratung zum Ernstfall kommen. Am 9. Oktober gehen in Leipzig rund 70.000 Menschen auf die Straße, angetrieben von der Wut auf die verknöcherte SED-Clique. „Wir sind das Volk!“, rufen die Demonstranten, die an diesem Montag fürchten mussten, dass die Machthaber auch vor dem Schusswaffengebrauch nicht zurückschrecken.
Schon im Vorfeld war die Bevölkerung eingeschüchtert worden. Das SED-Bezirksorgan „Leipziger Volkszeitung“ hatte den Leserbrief „Staatsfeindlichkeit nicht länger dulden“ gedruckt, in dem der Verfasser, ein Kommandeur der paramilitärischen Kampfgruppen der Arbeiterklasse, ankündigte: „Wir sind bereit und Willens, dass von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen. [...] Wenn es ein muss, mit der Waffe in der Hand!“
Doch die 8.000 bewaffneten Polizisten, Kampfgruppenangehörigen und Soldaten, die der Staat aufgeboten hat, kommen nicht zum Einsatz. Sie kapitulieren vor der Menschenmenge. Diese Machtprobe markierte den Anfang vom Ende der kommunistischen Diktatur. Nach dem „Tag der Entscheidung“ wird in der DDR nichts so bleiben, wie es zuvor war. Damit steht auch fest: Erneut hat die Stasi kläglich versagt. So wie schon 1953 erkennt die Geheimpolizei auch 1989 nicht, dass der SED die Macht zu entgleiten droht. Dabei hatte sich die Entwicklung, die in die Friedliche Revolution münden sollte, über Monate hinweg abgezeichnet. In der gesamten DDR – und erst recht in Leipzig.
In der Messestadt fand die Ouvertüre zum 9. Oktober schon zu Beginn des Jahres statt. Noch versammelten sich nicht solche Menschenmassen wie im Herbst, aber am 15. Januar gelang es 450 bis 500 Menschen, mitten im Stadtzentrum zu demonstrieren. Ihr Aufzug war ein unerhörter Vorgang im SED-Staat, auch wenn er nach nur 400 Metern gewaltsam aufgelöst wurde. Die Aktion war lange vorbereitet worden. Ein Bündnis Leipziger Basisgruppen hatte 10.000 Flugblätter mit einem Aufruf in Briefkästen geworfen und anlässlich des 70. Jahrestages der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit gefordert. Die Initiatoren luden „alle Bürger der Stadt“ dazu ein, auf den Marktplatz zu kommen. Nach einer kurzen Kundgebung formierte sich dort der Demonstrationszug.
Wahlbetrug bei Kommunalwahlen heizt Proteste an
Mielke war wenig amüsiert. Tags darauf unterrichtete er unter anderem Staats- und Parteichef Erich Honecker über die „Aktivitäten feindlich-negativer Kräfte“ und teilte mit, dass Ermittlungsverfahren gegen elf inhaftierte Drahtzieher eingeleitet worden seien. Das harte Vorgehen gegen friedliche Demonstranten sorgte im Westen für Empörung. US-Außenminister George Shultz rügte in Wien auf einem KSZE-Treffen die Menschrechtssituation in der DDR. Dort wiederum fanden landesweite Fürbitteandachten und Informationsveranstaltungen statt. Die Unterdrückung des Protests gebar nur neuen Protest.
Am 13. März, während der Frühjahrsmesse, kam es für das Regime zur nächsten Blamage. Nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche kamen auf dem Vorplatz gut 3.000 Menschen zusammen. Die meisten von ihnen wollten in die Bundesrepublik übersiedeln, was auf legalem Weg kaum möglich war. Die Bilder, die das West-Fernsehen vor Ort machte, elektrisierten auch in DDR-Wohnzimmern: 300 Menschen, die von der Kirche zum Marktplatz zogen, riefen „Stasi weg!“. Nun behauptete Mielke, es sei „durch den konzentrierten Einsatz von 850 Angehörigen der Schutz- und Sicherheitsorgane sowie gesellschaftlicher Kräfte“ gelungen, die „provokatorische Aktion“ zu unterbinden.
Das nächste herausragende Ereignis im Protestkalender war nicht auf Leipzig beschränkt. Am Abend des 7. Mai, dem Tag der Kommunalwahl in der DDR, sprach SED-Politbüromitglied Egon Krenz in der Spätausgabe der DDR-Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ von „einem eindrucksvollen Votum“: 98,85 Prozent der Wähler hätten für die von der SED dominierte Einheitsliste gestimmt.
Dieses Mal hatten jedoch mehrere Tausend Bürger die Auszählung der Stimmzettel überwacht. Ihr Ergebnis: Die verkündeten Zahlen waren gefälscht. Dem Wahlbetrug folgten Unruhen. In Ost-Berlin und selbstverständlich in Leipzig, wo von nun an die Polizei an jedem Montag auf dem Nikolaikirchhof eingreifen musste – bis zur Sommerpause.
Erstmals treten Ausreisewillige und Regimekritiker gemeinsam auf
Kurz zuvor, am 13. Juni 1989, erhielten wichtige MfS-Offiziere vertrauliche Post: eine Verschlusssache von Mielke. Er ermahnte seine Untergebenen zu höchster Wachsamkeit, um am 17. Juni mögliche Kundgebungen anlässlich des Jahrestages des Volksaufstandes zu unterbinden. Mielke erinnerte an die „erhebliche Zunahme“ von Demonstrationen, für die er mehrere Beispiele anführte: aus Ost-Berlin und Leipzig.
„Wenn die Knüppel nicht ausreichen, wird die Waffe eingesetzt.“
Am 17. Juni sollte es aber ruhig bleiben, so wie während der Ferienzeit, die mit der Beratung im Stasi-Hauptquartier endet. Hummitzsch prognostiziert dort Zwischenfälle am 4. September. Genauso kommt es. Nun demonstrieren etwa 1.000 Bürger. In ihren Augen ist das Regime, das stur an alten Parolen festhält, obwohl die Mauer in Ungarn ein Loch bekommen hat und der DDR die Menschen in Scharen davonlaufen, endgültig diskreditiert. Das macht sie mutig.
Und noch etwas ist neu: In Leipzig treten erstmals Ausreisewillige und Regimekritiker gemeinsam auf. Die im Westen ausgestrahlten und im Osten aufmerksam verfolgten Fernsehberichte wirken mobilisierend. In Leipzig kehrt fortan keine Ruhe mehr ein.
Polit-Offizier ruft Klassenkampf mit Waffen aus
Der Funke springt auf andere Städte über. Am 4. Oktober 1989 erreichen vier Sonderzüge mit Prager Botschaftsflüchtlingen, die nach dem Willen des SED-Regimes über das Territorium der DDR in die Bundesrepublik ausreisen müssen, den Dresdner Hauptbahnhof. 5.000 Menschen versuchen die „Freiheitszüge“ zu stürmen. Tumultartige Szenen spielen sich ab, erstmals fliegen Steine.
Am 7. Oktober wollen die Politbürokraten dann würdig ihren 40. „Republik-Geburtstag“ begehen, doch Demonstrationen in Ost-Berlin, Chemnitz, Halle, Dresden oder Potsdam trüben ihre Feierlaune. In Plauen, einer Stadt mit knapp 80.000 Einwohnern, protestieren sogar bis zu 20.000 Menschen.
Das Finale findet am 9. Oktober in Leipzig statt. Dieser Tag ist deshalb ein besonderes Datum, weil es für eine der wenigen gelungenen Freiheitsrevolutionen in der deutschen Geschichte steht. Ein Polit-Offizier agitiert noch Stunden vor der Demonstration SED-Mitglieder mit den Worten: „Genossen, ab heute ist Klassenkampf. Die Situation entspricht dem 17. Juni 1953. Heute entscheidet es sich – entweder die oder wir. [...] Wenn die Knüppel nicht ausreichen, wird die Waffe eingesetzt.“ Dazu wird der Leipziger Gewandhauskapellmeister Kurt Masur später einmal sagen, die Leipziger seien „in Todesangst“ auf die Straßen gegangen. Das Regime habe gehofft, es könne die Menschen mit Drohungen wieder zur Raison zu bringen: „Und allein das ist ein Verbrechen.“
Der Autor ist Reporter der „Welt“-Gruppe, für die er 1990 bis 2002 Korrespondent in Leipzig war. Er hat zuletzt das Buch „Vorwärts und Vergessen! Kader, Spitzel und Komplizen: Das gefährliche Erbe der SED-Diktatur“ (Rowohlt) veröffentlicht.
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