POLEN : Dem Weltende nah
Eindrücke aus einer entlegenen Grenzregion. Der Konflikt in der Ukraine wird auch in der polnischen Provinz genau verfolgt
Der Putz bröckelt an dem gelb getünchten Altbau im Zentrum von Lancut, aber der Eindruck eines verfallenden Gebäudes täuscht. Das schwere Holzportal des unscheinbaren Baus mit dem quadratischen Grundriss ist verschlossen, ein Zettel mit Telefonnummer hängt an der Wand. Es dauert ziemlich lange, bis jemand abnimmt. Ein kurzes Hallo, ein paar Fragen, wer denn da sei und weshalb, dann öffnet sich die mit Eisen beschlagene Tür. Der freundliche Mann mit der Schiebermütze scheint nicht unzufrieden über die Störung am frühen Nachmittag. Besonders viele Gäste kommen ja nicht in die kleine Stadt in Ostpolen, um einen Blick zu werfen auf eine der prächtigsten noch erhaltenen alten Synagogen Europas, ein Barockbau von 1761. Die Synagoge ist eine wahre Schatzkiste in einer Region, in der nach dem Holocaust kaum noch Juden leben. Synagogen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört, Gemeinden aufgelöst, wer flüchten konnte, war weg - und kam auch nie wieder.
Heute, 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, ist nicht viel mehr geblieben als die Rückschau auf die einst friedliche Koexistenz von Juden, katholischen und orthodoxen Christen in der Region. Auf üppig bewachsenen jüdischen Friedhöfen ragen aus kniehohem Gras verstreut und schief die alten, bemoosten Grabsteine heraus. Die "Stiftung zur Erhaltung des jüdischen Erbes in Polen" bemüht sich darum, das einst bedeutende jüdische Leben in dieser Gegend in das Gedächtnis der Bewohner und Besucher zurückzurufen.
Märchenhafter Reichtum Die Synagoge in Lancut steht direkt neben dem Schloss, eine stattliche Anlage aus dem 17. Jahrhundert, erbaut von dem polnischen Magnaten Stanislaw Lubomirski (1583-1649), der über riesige Ländereien verfügte. Die Adelsfamilie der Lubomirski gehörte seinerzeit zu den wohlhabendsten Dynastien im Doppelstaat Polen-Litauen. Lubomirski ließ das Schloss in den Jahren 1629 bis 1642 als Residenz im italienischen "palazzo-in-fortezza"-Stil erbauen, eine Kombination aus Wohngebäude und Befestigungsanlage.
Im späten 18. Jahrhundert erlebte das Schloss unter der neuen Eigentümerin Isabella von Czartoryski Lubomirska (1736-1816) eine kulturelle Blüte und Bedeutung weit über Lancut hinaus. Die Fürstin holte Künstler und gesellschaftliche Größen aus ganz Europa in die Stadt und unterhielt enge Verbindungen zum französischen Hof. Schloss Lancut war damals als Versammlungsort der Frei- und Querdenker wohl so etwas wie Schloss Sanssouci unter Friedrich dem Großen für Preußen.
Nach dem Tode der Fürstin fiel der Grundbesitz durch Heirat der Familie Potocki zu, und es war schließlich Alfred Potocki III., der unter der deutschen Besetzung im
20. Jahrhundert dafür sorgte, dass die Nazis weder das Schloss plünderten noch die Synagoge mit der einzigartigen Bima, der zentralen Plattform, von der die Tora gelesen wird, zerstörten. Auf wundersame Weise gelang es dem Grafen, die Nazis von der neuerlichen Barbarei abzuhalten, obgleich der Bau bereits in Flammen stand. Angeblich machte Potocki dazu seinen Einfluss direkt bei Hermann Göring geltend. 1944 musste Potocki vor den Russen fliehen.
Mord und Vertreibung Lancut gehört heute zur Wojwodschaft Karpatenvorland, einer schwach besiedelten polnischen Region, die im Osten an die Ukraine grenzt und im Südosten an die Slowakei. Diese Grenzregion mit der faszinierenden Berglandschaft von Bieszczady im südöstlichsten Zipfel des Landes steht beispielhaft für die tragischen Verwerfungen, die das zurückliegende Jahrhundert über weite Teile Osteuropas gebracht hat. 1910 lebten in der Region Galizien noch rund 900.000 Juden, die damals größte eigenständige jüdische Kulturgemeinschaft der Erde. Der jüdische Bevölkerungsanteil in Galizien lag bei elf Prozent. Zum Ende des Zweiten Weltkrieges waren die Juden dort fast vollständig vertrieben oder vernichtet.
Mit dem Zweiten Weltkrieg wurde die Region, die einmal als ein Teil Österreich-Ungarns zum Königreich Galizien und Lodomerien (1846-1918) gehörte, von Deutschen und Sowjets in die Zange genommen. Stalin sicherte sich nach dem Polen-Feldzug Deutschlands 1939 Ostgalizien und das benachbarte Wolhynien, die damals zur Zweiten Polnischen Republik gehörten. Nach Hitlers Angriff auf die Sowjetunion 1941 kamen die Gebiete bis 1944 unter deutsche Besatzung, was die Ukrainer teilweise begrüßten, weil sie sich einen unabhängigen Staat erhofften, aber weder Stalin noch Hitler hatten Interesse an einer selbstständigen Ukraine.
Das schon länger angespannte Verhältnis zwischen Polen und Ukrainern gipfelte 1943 in einem Massaker, das noch heute beiderseits der Grenze hitzige Debatten auszulösen in der Lage ist. Die Ukrainische Aufständische Armee (UPA), ein militanter Arm der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), wollte mit Gewalt einen unabhängigen Staat schaffen und ging im Sommer 1943 gegen die verhassten Polen vor. Die berüchtigten UPA-Kämpfer überfielen von Polen besiedelte Dörfer und ermordeten die Bevölkerung. Schätzungsweise 100.000 Polen kamen uns Leben, weitere 300.000 flohen aus der ländlichen Gegend. Später rächten sich polnische Partisanen blutig und töteten schätzungsweise bis zu 20.000 Ukrainer.
Als Folge des neuen Grenzvertrages zwischen Polen und der Sowjetunion 1945, der den Polen erhebliche Gebietsverluste im Osten brachte, setzte eine Massenvertreibung ein. Zunächst sorgten die Polen dafür, dass rund 530.000 Ukrainer und Weißrussen aus Polen in die Sowjetunion verbracht wurden. Im Sommer 1947 mussten nochmals rund 160.000 Ukrainer aus dem damaligen West-Galizien in die Oder-Neiße-Region umsiedeln. Auf der anderen Seite sorgten die Sowjets zwischen Herbst 1944 und Frühjahr 1949 dafür, dass rund 1,5 Millionen Polen aus der West-Ukraine und dem westlichen Weißrussland ebenfalls dauerhaft in die Oder-Neiße-Region verschickt wurden. Von der Umsiedlungswillkür und den wechselnden Grenzverläufen zeugt auch die Vielvölkerstadt Lwiw (Polnisch: Lwów, Deutsch: Lemberg), einst Hauptstadt Galiziens, in der bis 1939 mehrheitlich Polen und polnische Juden lebten. In ihrer Frühzeit stand die berühmte Löwenstadt unter altrussischer Verwaltung, war lange polnisch, zwischenzeitlich österreichisch, dann wieder polnisch, sodann sowjetisch und ist heute die bedeutendste Stadt in der Westukraine.
Bleibendes Misstrauen Die Vertreibungen, Kämpfe und Grenzverschiebungen haben ein anhaltendes Misstrauen hüben wie drüben hinterlassen, das heute zusätzlich genährt wird durch den "Bruderkrieg" in der Ukraine und das wirtschaftliche Gefälle zwischen Polen und seinem östlichen Nachbarn. Der Durchschnittsverdienst in der Ukraine liegt nur bei rund 200 Euro im Monat. Die polnische Seite setzt wirtschaftlich unter anderem auf Touristen, die sich in der Weite der Karpatenlandschaft allerdings leicht verlieren.
Wölfe und Wodka Danuta betreibt in der Nähe von Ustrzyki Dolne an einer wichtigen Zufahrtsstraße in die Berge eine kleine Pension. Die kleine Frau mit dem forschen Auftreten, die mit einem Österreicher verheiratet war, hat viel Land und wenig Zeit, schwirrt umher wie die Schmetterlinge über ihrem üppigen Gemüsegarten und erzählt von Wölfen, die nachts bis an ihr Grundstück schleichen und dann vom Hofhund vertrieben werden. Über die Krise in der nahen Ukraine zerbricht sich Danuta nicht den Kopf. Angst vor imperialen Russen, die ihren Einflussbereich weiter nach Westen ausdehnen könnten, wie dieser Tage viele Polen befürchten? Danuta lacht und schüttelt den Kopf. Die Russen seien zwar unberechenbar, aber so verrückt nun auch wieder nicht.
Ruhe und Schönheit der Landschaft in Bieszczady haben manchen Freigeist dazu verleitet, hier sesshaft zu werden. Adam Glinczewski ist so ein Gestrandeter, seine lebhaften Augen unter der ledernen Hutkrempe verraten Neugier. Die winzige Werkstatt des Holzkünstlers und Gelegenheitsmusikers steckt voll mit geschnitzten Heiligenfiguren und einer Sammlung Whisky- und Wodkaflaschen. Als junger Mann kam er einst aus Wroclaw (Breslau) her, er wollte zurück in die Heimat, aus der sein Vater vertrieben worden war. Aus dem gelernten Schumacher ist ein gereifter Alleskönner geworden, der draußen vor der Tür die Kettensäge über groben Holzklötzen kreisen lässt. Einer der Lieblingssprüche von Lysy (deutsch: kahl), wie sich Adam selbstironisch nennt, lautet: "Bieszczady ist nicht das Ende der Welt, aber von hier aus kannst Du es sehen." Die politisch zugespitzte Lage in der nahen Ukraine, die unter russischem Dirigat gerade zerfällt wie eine Sandburg auf der Krim, sieht Adam eher mit politischem Interesse als mit Sorge. Er verfolgt den gefährlichen Konflikt im nahen Nachbarland genau und rechnet nicht mit einer schnellen Lösung: "Jedes Land muss seinen Weg finden, dabei wird meist auch Blut vergossen", merkt er betont diplomatisch zu den blutigen Kämpfen an, die trotz der Waffenstillstandsvereinbarungen nun schon so lange andauern, ohne erkennbaren Ausweg.
Krieg und Kunst Der große Krieg, die vielen Toten, die Ghettos, menschliche Abgründe und fremde Welten: Das sind Themen in den erschreckend düsteren Bildern eines anderen Künstlers aus der malerischen Region, der in Polen und auch international große Bekanntheit erlangt hat. Jedenfalls werden die Werke von Zdzislaw Beksinski (1929-2005) aus Sanok im Lichte der Vergangenheit interpretiert.
Sanok ist eine kleine Industriestadt, rund 50 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Große Hallen, breite Straßen und Supermärkte mit riesigen Parkplätzen bestimmen hier das alttägliche Wimmelbild. Es war Zdzislaws Urgroßvater Mateusz Beksinski, der 1832 in Sanok eine Fabrik für Dampfkessel und Maschinen gründete, aus der später der im Ostblock bekannte Bushersteller Autosan hervorging, die Marke mit dem Storch im Wappen. In den 1960er Jahren schuf Zdzislaw Beksinski als Designer der Firma Prototypen für Autos und Kleinbusse, bevor er sich aus dem Unternehmen zurückzog und ganz der Kunst zuwandte.
Schloss Sanok, gut sichtbar auf einem Hügel gelegen, ein schön restaurierter Renaissancebau aus dem 16. Jahrhundert mit Blick auf den früheren Grenzfluss San, beherbergt heute einen Großteil der Werke Beksinskis, neben Bildern auch Fotografien und Skulpturen. Auf seinen Bildern ist Schwarz die dominierende Farbe, seine Gestalten ohne Gesicht wirken unnahbar, vereinsamt, entstellt, gefesselt, oft verloren scheinend in einer lebensfremd, außerirdisch anmutenden Umgebung. Kaum weniger düster als seine Bilder verliefen Passagen in seinem Leben bis zu seinem gewaltsamen Tod. Sein einziger Sohn nahm sich 1999 das Leben, seine Frau erlag einer schweren Krankheit und er selbst fiel 2005 einem Raubmord zum Opfer. Am Rande des historischen Marktplatzes steht der berühmte Sohn der Stadt nun in Bronze gegossen, klein, unscheinbar, mit Hornbrille und ein wenig verloren. Was Beksinski letztlich dazu verleitet haben mag, in einer Gegend von ausgesuchter Schönheit die Tristesse konsequent in den Mittelpunkt seiner Werke zu stellen, wird sein Geheimnis bleiben. Er hat sich den offiziellen Interpretationen immer widersetzt.
Weiter östlich patrouillieren derweil ukrainische Soldaten in Kampfmontur auf dem grünen Grenzstreifen des Dreiländerecks. Bergwandern als Tagesbefehl unter weißblauem Himmel. Weiß-Blau sind auch die älteren ukrainischen Grenzpfähle, die neben den funkelnd neuen Rotweißen der Polen stehen. Der markierte Wanderweg verläuft mitunter genau zwischen den Betonpfosten, als wäre es egal, ob man gerade hüben oder drüben ist. Manche Wanderer schauen gleichwohl besorgt auf die in der Sonne blinkenden Waffen, die jungen Soldaten schert das nicht. Sie gehen weiter und verschwinden schließlich irgendwo im Grünen.