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Bildung : Zwischen Penne und Porno

Die Frage, was Schüler wann über Sex erfahren sollten, erhitzt seit 50 Jahren die Gemüter

07.01.2019
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6 Min

Jeden zweiten Freitagabend stehen die Anhänger der ultra-katholischen Kreises Maria Goretti vor dem bayrischen Kultusministerium und beten die Litanei des Rosenkranzes herunter, anderthalb Stunden lang, bis sie heiser sind. Die frommen Demonstranten haben eine Mission: Sie wollen den zuständigen Minister zu der Einsicht verhelfen, den Sexualkundeunterricht an Bayerns Schulen abzuschaffen. Die "sexuelle Dauerberieselung in allen Fächern" führe zu einer "Schädigung und Gefährdung" der Kinder, schimpft Rita Stumpf, Wortführerin und Mutter dreier Kinder, im "Spiegel". Doch weder Ave Maria noch Vaterunser können etwas ausrichten, der Gebetssturm verhallt auf dem Münchner Salvatorplatz.

Ortswechsel, Stuttgarter Innenstadt. Hunderte sind auf den Straßen und halten Plakate hoch. "Schützt unsere Kinder" und "Kinder brauchen Liebe, keinen Sex" steht auf ihnen; es kommt zu Tumulten. Bereits zum vierten Mal hat ein Bündnis aus konservativen und religiösen Gruppen zum Protest gegen den neuen Bildungsplan der grün-roten Landesregierung aufgerufen. Stein des Anstoßes ist die Passage, nach der die Schüler künftig lernen sollen, andere geschlechtliche Identitäten und sexuelle Orientierungen zu akzeptieren. Vom "Gift der Genderideologie" und einer "Sexualisierung der Gesellschaft" warnt angesichts dessen die AfD-Politikerin Beatrix von Storch; der Publizist Mathias Gersdorf sorgt sich um "Ehe, Familie und christliche Wurzeln unseres Landes".

Empörung in Berlin Zwischen beiden Ereignissen, den Protesten in München (1976) und Stuttgart (2014), liegen knapp 40 Jahre. Jahrzehnte, in denen Lehrer und Eltern, Politiker und Kirchenvertreter immer wieder heftig um Ziele und Inhalte der Sexualerziehung gerungen haben - und es noch heute tun. Denn die Debatte bekommt neuen Zündstoff in einer Gesellschaft, die mehr denn je für Freizügigkeit und Vielfalt steht. So haben unlängst auch die modernisierten Bildungspläne in Hessen (2016) und Bayern (2017) zu emotionalen Diskussionen und Protesten geführt. In Berlin schlug Anfang vergangenen Jahres eine vom Senat finanzierte Broschüre mit dem Titel "Murat spielt Prinzessin, Alex hat zwei Mütter und Sophie heißt jetzt Ben" Wellen, die Erzieher für die sexuelle Vielfalt von Kita-Kindern sensibilisieren soll.

Zwar ist Sexualkundeunterricht seit den 1970er Jahren in allen Bundesländern vorgesehen - fächerübergreifend von der ersten bis zur letzten Klasse. Doch die Fragen sind die gleichen geblieben: Wann hört neutrale Wissensvermittlung über Sex auf, wann beginnt Indoktrination? Ist es tatsächlich Teil der Missbrauchsprävention, wenn Kinder schon in der Grundschule lernen, verschiedene Lebenswelten zu akzeptieren und Geschlechterrollen kritisch zu beleuchten, wie etwa der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, meint? Oder leistet das einer "Frühsexualisierung" von Kindern Vorschub, wie unter anderem die Organisation "Besorgte Eltern" fürchtet?

Von staatlicher Seite hat sich früh jene Einsicht durchgesetzt, die der Kieler Sexualpädagoge Uwe Sielert mit Blick auf Missbrauchsskandale, frei verfügbare Pornos im Internet und den Wandel von Geschlechteridentitäten und -rollen formuliert: "An einer umfassenden und sensiblen sexuellen Bildung, die diese Themen präventiv bearbeitet, führt kein Weg vorbei."

Sexuelle Revolution Erste Überlegungen dazu gab es in den 1960er Jahren. Damals revolutionierte die Pille das Liebesleben in Ost und West, Beate Uhse eröffnete in Flensburg den ersten Sexshop der Welt. Die 68er propagierten die freie Liebe und auf den Zeitschriften rekelten sich plötzlich halb nackte Frauen neben Titeln wie "So liebt die Französin" oder "Warum Frauen Frauen lieben".

"Die Menschen entdeckten den Sex als Wohlfühlquelle jenseits vom Kinderkriegen wieder", meint Uwe Sielert. Entsprechend gierig suchten sie nach Informationen. 1969 erschien in der Jugendzeitschrift Bravo erstmals die Rubrik "Liebe, Sex und Zärtlichkeit", in der "Dr. Sommer" in ungewohnter Offenheit die intimsten Fragen der Teenies ("Kann ich vom Küssen schwanger werden?") beantwortete. Das DDR-Pendant, die Sex-Kolumne "Unter vier Augen", betreute Jutta Resch-Treuwerth ab 1971 in der FDJ-Zeitung "Junge Welt". Im Westen avancierte Oswalt Kolle mit seinen Sex-Kolumnen und Aufklärungsfilmen zum "Aufklärer der Nation". Allein sein erstes Werk "Das Wunder der Liebe", eine Art Frühschoppen mit softpornografischen Einlagen, zog sechs Millionen Menschen in die Kinos und versetzte die Zensoren der Freiwilligen Selbstkontrolle in Aufregung: "Herr Kolle, Sie wollen wohl die ganze Welt auf den Kopf stellen, jetzt soll sogar die Frau oben liegen!"

Der Staat konnte sich die "Sex-Welle" nicht lange entziehen. In Parteien und Schulen reifte laut Sielert die Erkenntnis, das plötzlich so relevante Thema besser "in geordnete Bahnen" zu lenken - auch um zu verhindern, dass die Forderungen nach sexueller Liberalisierung überhand nehmen. Am 3. Oktober 1968 veröffentlichte die Kultusministerkonferenz (KMK) ihre "Empfehlungen zur geschlechtlichen Erziehung in der Schule". Die Schüler sollten fortan "zu verantwortlichem geschlechtlichen Handeln" erzogen werden und "sachlich begründetes Wissen" zu Fragen der Sexualität vermittelt bekommen. In der DDR hatte Bildungsministerin Margot Honecker (SED) schon zwei Jahre zuvor die schulische Aufklärung vorangetrieben.

Infolge des KMK-Beschlusses verankerten alle Bundesländer die Sexualkunde in ihren schulischen Curricula, jedoch mit unterschiedlichen Akzenten. So lernen Schüler in Bayern bis heute später als jene in Hamburg oder Berlin, wie sie mit anderen sexuellen Identitäten und Orientierungen umgehen. Im Freistaat stand anfangs zudem der von Gesundheitsministerin Käte Strobl (SPD) herausgegebene Sexualkundeatlas auf dem Index, weil der zuständige Ministerialrat fürchtete, die Schautafeln über Geschlechtsorgane, Befruchtung und Schwangerschaft könnten bei den Kindern "zu sexuellem Harakiri" führen.

Insgesamt erwies sich die schulische Aufklärung aber als erstaunlich progressiv. Die Schüler hantierten mit Holzpenissen und aufklappbaren Frauentorsos herum, man sprach über Prostitution, Homosexualität und Sex vor der Ehe. Streng religiöse Eltern versuchten deshalb immer wieder, ihre Kinder vom Unterricht befreien zu lassen, einige zogen mit Verweis auf das elterliche Erziehungsrecht sogar vor das Bundesverfassungsgericht. Doch das erwies sich als Bumerang. Denn die Richter urteilten 1977 nicht nur, dass der Staat die Sexualerziehung "als wichtigen Bestandteil der Allgemeinerziehung von jungen Menschen in seinem Staatsgebiet betrachten" könne. Sie schoben darüber hinaus dem elterlichen Mitbestimmungsrecht einen Riegel vor.

Mit oder ohne Eltern? Ein Fehler, meint unter anderem die Vorsitzende der Katholischen Elternschaft, Marie-Theres Kastner. Sie glaubt, die Auseinandersetzungen um die Bildungspläne in Hessen und Baden-Württemberg seien nur deshalb so aggressiv geführt worden, weil die Regierungen die Eltern nicht frühzeitig einbezogen hätten. Generell müssten Unterrichtsinhalte in Sexualkunde immer mit den Eltern abgesprochen werden müssten, findet sie, "weil sie den Entwicklungsstand ihrer Kinder am besten beurteilen können".

Sexualpädagoge Sielert sieht demgegenüber vor allem die Lehrer gefordert. "Sie müssen die verschiedenen Erwartungen und Vorkenntnisse der Jugendlichen berücksichtigen. Sonst überfordern sie Kinder aus evangelikalen oder muslimischen Familien mit sexuellen Lustthemen und langweilen die anderen, die durch Pornokonsum schon viel über die sexuelle Praxis wissen und vor allem eine Einordnung der Informationen brauchen." Allerdings seien die Lehrer auf diese komplexe Aufgabe kaum vorbereitet. "Sexualpädagogik ist noch immer kein fester Bestandteil der Lehrerausbildung", kritsiert Sielert. "Das sollte sich ändern."

Vor einer besonderen Herausforderung stehen Religionslehrer, die den Spagat zwischen römisch-katholischer Lehre - nach der etwa künstliche Verhütung verpönt ist - und der Lebensrealität der Jugendlichen meistern müssen. Zumal die katholische Kirche bislang keine einheitliche Haltung zum Sexualkundeunterricht entwickelt hat. Ihnen will die Münchner Theologin Annette Wermuth Orientierung geben. Ziel ihrer Sexualpädagogik-Seminare sei es, die Studenten so zu schulen, "dass sie im Sinne christlicher Nächstenliebe handeln, weil sie biologisches, theologisches und pädagogisches Wissen mit seelsorglicher Herzensbildung verbinden", erklärt sie. Und fügt hinzu, welch große Offenheit in ihrer Seminargruppe herrsche, auch bei Fragen wie Abtreibung, Eizellspende oder gleichgeschlechtlicher Liebe. "All das sind Themen, die den Menschen zutiefst angehen", erklärt Wermuth. "Und das ist ja letztlich das, was Religion ausmacht."

Laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2015 haben allerdings weder Schule noch Elternhaus für Jugendliche den Stellenwert in Fragen der Sexualität wie noch vor ein, zwei Jahrzehnten. Wichtigstes Medium der Aufklärung ist für sie heute das Internet. Sie tauschen sich in Foren aus, gucken Pornos oder holen sich auf You Tube praktische Tipps von Erektionsstörungen über Intimfrisuren bis hin zu Oralsex. Der kürzlich eingestellte Kanal "Fickt Euch! Alles rund um Sex und Liebe", hatte fast 18.000 Abonnennten und wurde sogar vom Bundesfamilienministerium unterstützt.

Eine Entwicklung, die nach Ansicht von Paula Lambert nicht nur positiv ist. Die Autorin moderiert auf dem Pro7-Spartensender Sixx die Aufklärungssendung "Paula kommt" und stellt in Gesprächen mit ihren überwiegend weiblichen Zuschauern immer wieder fest, dass diese zwar alles über sexuelle Praktiken wissen, oft aber nicht in der Lage seien, über ihre Sorgen und Bedürfnisse zu reden. Sie findet daher, dass moderne Aufklärung emotionale Aspekte viel stärker berücksichtigen sollte. Das aber sei nur außerhalb des Klassenzimmers, in speziellen Kursen, zu leisten. "Die Jugendlichen wollen doch cool sein, die öffnen sich nicht vor ihren Mitschülern. Wer redet schon vor versammelter Klasse über Versagensängste und Orgasmusprobleme?" Johanna Metz