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Reichstagsgebäude : Zeuge wechselvoller Geschichte

Eine Hommage zum 125. Geburtstag und zur Wiedergeburt vor 20 Jahren

15.04.2019
2023-08-30T12:36:20.7200Z
6 Min

Architektur ist Sprache, ein Baudenkmal eine komplexe Botschaft. Dass das Reichstagsgebäude geradezu zum Palimpsest - zum mehrfach überschriebenen Dokument der wechselvollen deutschen Geschichte wurde, ist vielleicht der Grund, dass es seit 1999 mit weit mehr als einer Million Besuchern pro Jahr Berlins beliebteste Touristenattraktion darstellt.

Schon bei seiner ersten Eröffnung vor 125 Jahren präsentierte das Reichstagsgebäude sich als einer der spektakulärsten und aufwendigsten Neubauten des Deutschen Reiches (bezahlt aus den französischen Reparationsgeldern des Krieges 1870/71). Nicht zufällig kehrte es der alten Herrschaftsmitte Berlins den Rücken und den aufstrebenden bürgerlichen Vorstädten im Westen sein Gesicht zu. Bekannt ist, dass der Bau an Ausmaß, Höhe und Aufwand mit der Residenz des Kaisers konkurrierte - dem ehrwürdigen Berliner Stadtschloss Schlüters und seiner 1845 bis 1853 von Friedrich August Stüler über der Westfront errichteten Kuppel. Mit 75 Metern überragte die Reichstagskuppel die 67 Meter der Schlosskuppel. Aber nicht nur das erregte den Zorn Kaiser Wilhelms II., sondern auch - einmal abgesehen von der Politik - die übermäßig prachtvolle architektonische Selbstdarstellung der Volksvertretung, die die Wettbewerbsentwürfe der 1870er Jahre und auch Paul Wallots preisgekröntes Siegerprojekt von 1882 zelebrierten.

Historisierender Neubarock Wallot zog alle Register eines historisierenden, aber wohl kaum aus preußischer Tradition gespeisten Neubarock. Vielmehr orientierte er sich für die Großform mit den vier trutzigen Ecktürmen und dem markanten Mittelrisalit wohl am monumentalen Schloss Blenheim des Feldmarschalls Herzog von Marlborough in Oxfordshire - ein britisches Staatsgeschenk für dessen Sieg über die Franzosen 1704 bei Blindheim an der Donau (was man als dezente Analogie zu den Begleitumständen der Reichsgründung und zur souveränen Rolle des Parlaments verstehen könnte). War der Plenarsaal dem "republikanischen" Prototyp der französischen Nationalversammlung nachempfunden, so fiel am Äußeren die Modernität der mächtigen Glas-Eisen-Kuppel des Bauingenieurs Hermann Zimmermann ins Auge. Sie repräsentierte ebenso wie einige Allegorien des Skulpturenprogramms die aufstrebende Industrienation Deutschland. Lange gerungen wurde mit dem Kaiser vor allem um Wallots (heute im Hinblick auf politische "correctness" umstrittene) Widmungsinschrift "Dem deutschen Volke", die erst 1916, als "das Volk" dringend zur Verteidigung des Vaterlandes benötigt wurde, angebracht werden durfte - und zwar in bronzenen Lettern, die aus eingeschmolzenen französischen Kanonen gefertigt waren. Andererseits (auch dies ein heiß umkämpftes Signal) wurde sie in der damals modernsten Typographie von AEG-Chefdesigner Peter Behrens ausgeführt.

Für die erste parlamentarische Demokratie in Deutschland mit ihrem kreativen Reformanspruch - man denke nur an die Bauhausmoderne, das "Neue Frankfurt" und die Berliner Großsiedlungen unter Stadtbaurat Martin Wagner - war das Reichstagsgebäude wegen der angestiegenen Zahl der Abgeordneten nicht nur zu eng geworden, sondern auch in seinem imperialen Habitus überholt. Es entstanden in den Jahren der Weimarer Republik avantgardistische Erweiterungsplanungen, die jedoch auf dem Papier blieben, denn es gab angesichts von Inflation, Wohnungsnot, Sozial- und Wirtschaftskrise Wichtigeres zu tun.

Auch zur Ideologie des Nationalsozialismus bot das Gebäude keine passende Anmutung, obwohl seine Usurpation propagandistisch ausgeschlachtet wurde. Der Reichstagsbrand im Februar 1933 bot dann - ob gezielt ausgelöst oder "nur" ausgenutzt - Anlass, parallel zum Ermächtigungsgesetz den Schauplatz der parlamentarischen Demokratie ganz auszublenden: Namentlich der Plenarsaal blieb bis in die 1950er Jahre Ruine.

Dass nicht die Einnahme von Hitlers Reichskanzlei, sondern des funktionslosen, durch Bombenangriffe 1944/45 auch äußerlich stark beschädigten Reichstagsgebäudes zur inszenierten (weil nachgestellten) Ikone für den Sieg der Roten Armee wurde (heute noch ablesbar an den wiederaufgedeckten russischen Graffiti) zeigt, dass es noch immer den höchsten Rang als Nationalsymbol einnahm. Seine Symbolkraft wurde im Kalten Krieg reaktiviert, als die Ruine - nun unmittelbar an der Grenze zum Ostteil der Stadt gelegen - anlässlich der legendären Rede des West-Berliner Regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter (SPD) gegen die sowjetische Blockade 1948 zur Kulisse für die Weltöffentlichkeit wurde: "Völker der Erde, schaut auf diese Stadt!" Das galt auch noch am 1. Mai 1962, als Reuters Nachfolger Willy Brandt nach dem Mauerbau vor mehr als 700.000 West-Berlinern die kochende Volksseele zum inneren Widerstand gegen das DDR-Regime, aber auch zur Mäßigung mahnte.

Parallel zur Planung der Internationalen Bauausstellung "Interbau" von 1957 hatte man begonnen, die Reichstagsruine zu sichern und den baulichen Torso durch Purifizierung seines pompösen plastischen Dekors zu "modernisieren". Anders als im Falle der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gab es dabei kaum Proteste zugunsten getreuer Bewahrung oder gar Wiederherstellung der kaiserzeitlichen Relikte, nicht zuletzt der für die Gesamtgestalt so wichtigen Kuppel: Jede rekonstruktive Maßnahme hätte angesichts der gespannten politischen Lage als restaurative, ja reaktionäre Geste gewirkt. Vielmehr wurde das Gegenteil - der bauliche Ausdruck einer neuen bundesrepublikanischen Identität im Vorgriff auf die ersehnte Wiedervereinigung - angestrebt, als 1960 der beschränkte Wettbewerb zum Innenausbau ausgeschrieben wurde. Dabei waren die Vorgaben für die Nutzung durch den Bundestag nur sehr vage formuliert, weil sie im Hinblick auf den Viermächtestatus der Stadt als Provokation der Sowjetunion verstanden werden mussten.

Obwohl der heute fast vergessene Reichstagsausbau Paul Baumgartens von 1971 bis 1994 überwiegend für die Dauerausstellung "1871 - Fragen an die deutsche Geschichte" genutzt wurde, stellte er ein bedeutendes baukünstlerisches Werk der Nachkriegsmoderne und ein programmatisches Zeugnis politischer Architektur in der jungen Bundesrepublik dar. Gegen die noch immer wirkmächtige Pracht und Schwere des fragmentierten Wallotbaues setzte Baumgarten im entkernten Inneren einen lichtdurchfluteten, vom Vestibül hinter dem Portikus durch eine raumhohe Glaswand abgetrennten Mehrzwecksaal (Plenarsaal) mit umlaufenden Emporen, der durch seine noble Sachlichkeit, Eleganz und Bescheidenheit beeindruckte. Ähnlich wie Egon Eiermanns Pavillon auf der Brüsseler Weltausstellung von 1958 repräsentierte diese Metamorphose ein den demokratischen Werten politischer Transparenz, technischer Effizienz und optimistischer Fortschrittsgläubigkeit verpflichtetes Deutschland, wozu auch Bernhard Heiligers zweigeteilte Aluminiumplastik "Kosmos 70" im Space-Age-Design beitrug, die gleichsam als Metapher spannungsvoller Annäherung frei im Vestibül schwebte.

Nach der Vereinigung und dem Hauptstadtbeschluss von 1991 scheiterte die Nutzung durch den Bundestag offiziell an der zu geringen Zahl von Abgeordnetensitzen für das vergrößerte Parlament, tatsächlich aber wohl eher am neuerlichen Mentalitätswechsel im politischen Selbstverständnis, das nun eine spektakulärere Repräsentation der "Berliner Republik" und ihrer souveräneren Stellung in der Welt verlangte. Der Abriss der denkmalgeschützten Nachkriegsfassung ab 1995 stellte eine rabiate Auslöschung des überwundenen "Provisoriums" der deutschen Teilung dar - im Osten entsprach dem der voreilige Abriss des Volkskammersaals im Palast der Republik nach 1998. Gefragt war nun stattdessen ein zukunftsweisendes architektonisches Branding der gesamtdeutschen Nation in der bereits mehrfach gehäuteten historischen Hülle. Es besteht Konsens, dass dieses Kunststück letzten Endes auf höchstem Niveau gelungen ist - doch lohnt es sich, die Umstände der vorerst letzten Überformung des Baudenkmals noch einmal zu rekapitulieren.

Inmitten des Ringens um die Neugestaltung der politischen Landschaft und ihres angemessenen architektonischen Ausdrucks schien die Zeit reif, endlich auf das Jahrzehnte alte Projekt des Künstlerehepaares Christo und Jeanne Claude einzugehen, den Reichstag nach bewährter Manier in einer gigantischen Folie "zu verpacken". Mit knapper Mehrheit nahm der Bundestag ihr höchst umstrittenes Angebot im Januar 1994 an, dem nun eine völlig neue Bedeutung zuwuchs. Wie in allen anderen Stadien seiner wechselvollen Baugeschichte offenbaren auch diesmal die begleitenden Debatten und Diskurse den tieferen Sinn des Geschehens. Das atemberaubende ästhetische Spektakel zog im Sommer 1995 innerhalb von zwei Wochen fünf Millionen Besucher an und weckte nachdenkliche bis euphorische Selbstreflexionen, gepaart mit Erwartungen und Hoffnungen auf Deutschlands Zukunft. Wie in uralten Mysterienkulten war am Ende das Auspacken (die Entschleierung als Sinnbild des Neuen) so eindrucksvoll wie zu Beginn des Events das Verpacken (Verschleierung als Metapher des Abschieds vom Alten).

Überzeugende Qualität Das Ergebnis dieser "Wiedergeburt" vor 20 Jahren muss man als glückliches Produkt eines unfreiwilligen Kollektivs bezeichnen, denn der Wettbewerbssieger Sir Norman Foster, der eine Kuppel ursprünglich abgelehnt hatte und 1993 einen riesigen (statisch, funktional, finanziell und semantisch widersinnigen) Flachdachbaldachin über den Altbau spannen wollte, nahm am Ende ungeniert die besten Ideen aus der jüngsten Planungsgeschichte auf: Helmut Kohls grundsätzlichen Wunsch nach einer Kuppel, die filigrane Glaskuppelkonzeption seines zweitplatzierten Konkurrenten Santiago di Calatrava und nicht zuletzt Gottfried Böhms 1992 publizierte Idee begehbarer Rampen innerhalb der Kuppel, die heute den Aufstieg auf die schönste Aussichtsplattform der Hauptstadt für jeden Besucher zu einem kinästhetischen Erlebnis machen. The winner takes it all - und das war gut so: Das vor 20 Jahren als Sitz des Bundestages wiedergeborene Reichstagsgebäude besitzt als fortgeschriebenes Palimpsest unserer Geschichte eine so überzeugende Qualität, dass die Politiker tagtäglich herausgefordert werden, diesem hohen Anspruch der Baukunst auch in ihrer parlamentarischen Arbeit gerecht zu werden. Mehr kann man von Architektur nicht verlangen.

Der Autor ist emeritierter Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der Technischen Universität Berlin.