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Buchrezension : Das unterschätzte graue Nashorn

Adam Tooze legt mit "Welt im Lockdown" eine erste Analyse zu den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie vor.

20.12.2021
2023-11-02T16:16:46.3600Z
2 Min

Eigentlich wollte Adam Tooze, Wirtschaftshistoriker an der New Yorker Columbia University und Autor des Buches "Crashed" über die Finanzkrise 2008, an seine Forschung vor einem guten Jahrzehnt anknüpfen, doch dann kam Corona. Tooze wechselte kurzerhand das Thema - und erzählt in "Welt im Lockdown" die Geschichte einer globalen Notlage ganz anderer Art. Doch auch sein jüngstes Werk ist im Kern das eines Ökonomen. Tooze versucht, den Kampf gegen die Ausbreitung der Seuche mit den wirtschaftlichen Folgen dieser Politik zu verbinden.

Als Historiker steht er vor dem Dilemma, das Phänomen nicht mit dem notwendigen Abstand, sondern mitten im Prozess beschreiben zu müssen. So besteht die Gefahr einer schnell überholten Analyse. "Jeder Versuch, einen narrativen Rahmen über den Tumult zu legen, den wir immer noch durchleben, ist zwangsläufig unvollständig und unterliegt der Revision." Der Autor löst das Problem, indem er den Beobachtungszeitraum gezielt eingrenzt. Er beschränkt sich auf die zwölf Monate vom Januar 2020 bis Januar 2021: Am Anfang gibt die chinesische Regierung bekannt, dass sich in Wuhan eine bisher unbekannte Seuche ausbreitet; am Ende wird Joe Biden neuer US-Präsident.

Virus war ein unterschätztes Risiko

"Das Virus war kein schwarzer Schwan, kein radikal unerwartetes Ereignis", heißt es in der Einleitung. "Es war vielmehr ein graues Nashorn, ein Risiko, das so selbstverständlich geworden ist, dass es unterschätzt wird." Das galt zu Beginn der Pandemie nicht nur für notorische Verharmloser wie Trump oder Bolsonaro, sondern für weite Teile von Wissenschaft und Politik in vielen Ländern. "Ein Jahr später taumelte die Welt", konstatiert Tooze. In der Geschichte des modernen Kapitalismus habe es noch nie eine Situation gegeben, in der 95 Prozent der Volkswirtschaften gleichzeitig einen so gravierenden Rückgang ihres Bruttosozialprodukts verkraften mussten.

Mehr als drei Milliarden Erwerbstätige wurden in Zwangsurlaub geschickt oder arbeiteten phasenweise von zu Hause aus. 1,6 Milliarden junge Menschen mussten ihre Ausbildung unterbrechen. Die globalen Einkommensverluste summierten sich schon im ersten Krisenjahr auf mindestens zehn Billionen Dollar. "Dass die Welt kollektiv diesen Stillstand gewollt hat, unterscheidet diese Rezession grundlegend von allen vorherigen." Im historischen Rückblick habe es schon weitaus tödlichere Seuchenausbrüche gegeben, beispiellos im Fall Corona sei "die Reaktion". Neoliberale Konzepte erwiesen sich als untauglich, eine unerwartete Renaissance erlebte der ökonomisch eingreifende Staat, der gigantische Rettungsprogramme auf Pump auflegte - und die dadurch steigende öffentliche Verschuldung in Kauf nahm.

Die Stärke von Toozes Buch liegt in seiner stets globalen Perspektive, die in der politischen Bekämpfung der Pandemie leider nicht die Regel war und ist. Die Weltgesundheitsorganisation agiert weitgehend machtlos, nationale Egoismen der reichen Staaten dominierten das Krisenmanagement. Wie im Brennglas zeigt das die äußerst ungleiche Verteilung der Impfstoffe. Das deutliche Gefälle könnte sich rächen, denn neue Virusmutationen entstehen vor allem dort, wo zu wenig Menschen geschützt sind.

Adam Tooze:
Welt im Lockdown.
Die globale Krise und ihre Folgen.
C.H.Beck,
München 2021;
408 Seiten, 26,95 €