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Foto: picture-alliance/SOLO Syndication/Jamie Wiseman
Eine Mutter und ihre Töchter versuchen am Bahnhof im westukrainischen Lwiw einen der Züge in Richtung Polen zu erreichen, um sich vor dem Krieg in Sicherheit zu bringen.

Polnisches Grenzgebiet : Auf der Flucht über die Grenze

Täglich machen sich zehntausende Ukrainer auf den Weg nach Polen. Dort werden sie herzlich empfangen.

07.03.2022
2024-02-26T10:12:16.3600Z
5 Min

Der Krieg beginnt in Lwiw kurz nach fünf Uhr morgens mit ungewöhnlich viel Verkehr: Die Prachtmeile "Prospekt Swoboda" in der westukrainischen Stadt füllt sich mit Panikkäufern, die schon kurz nach Russlands Angriff auf die Ukraine in die 24-Stunden-Supermärkte am Stadtrand aufbrechen. Im ganzen Land beginnt gleichzeitig ein Ansturm auf die letzten Fahrkarten für Züge aus der Hauptstadt Kiew in die polnische Grenzstadt Przemysl.

Im über 200 Jahre alten, traditionsreichen Hotel "George" im Zentrum Lwiws haben sich ganze Firmenabteilungen aus Kiew einquartiert. Hipp gekleidete junge Leute sitzen auch dann noch ruhig im Frühstücksraum, als die Sirenen zum Luftalarm heulen. Wo ein Schutzbunker für den Notfall ist, weiß keiner. Also wird das Geheul ignoriert.

Zwei Angriffe gab es bisher in der Gegend von Lwiw, doch keinen in Zentrumsnähe. Die russische Armee will offensichtlich zivile und militärische Flugplätze ausschalten. Und der Kreml zeigt damit, dass er auch unweit der Grenze zur Nato-Ostflanke in Polen zuschlagen kann.

Furcht vor russischen Spionen

Vor dem Hotel jedoch haben sich die Straßen merklich geleert. Auch die Cafés in der schmucken Innenstadt sind kaum besucht, nur noch vereinzelt spielen Straßenmusiker für die paar verbliebenen Touristen vor allem aus dem arabischen Raum. In den Außenbezirken dagegen staut sich der Verkehr, Tausende versuchen sich mit dem Auto Richtung Karpatengebirge oder gleich nach Polen in Sicherheit zu bringen.

"Alles wird schon wieder gut, wir haben eine starke Armee", sagt Andrei, der einen Doppelkinderwagen vor einem Babykleidergeschäft schaukelt. Noch will der Familienvater abwarten, seine Frau und die Zwillinge erst in ein paar Tagen in die Berge in Sicherheit bringen. "Ich bleibe hier und verteidige meine Stadt Lwiw", sagt der Mittdreißiger bestimmt. Ein Problem jedoch sieht er schon jetzt: 2014/15 sind Zehntausende aus den Separatistengebieten Donezk und Luhansk nach Lwiw geflüchtet, darunter viele gutbetuchte Bürger. "Ich fürchte ihren Verrat", sagt der Mann. Russland habe seit Jahren gezielt Spione aus dem Donbass und unter der alteingesessenen russischen Minderheit angeworben.

Wegen eines Raketenangriffs bei Schitmir würden keine Züge mehr fahren, verbreitet sich ein Gerücht am Bahnhof. Von Panik ist am ersten Kriegstag zwar noch keine Spur, Kioske und Bahnhofbuffets sind dennoch ausverkauft, nur noch Mineralwasser ist erhältlich. Wider Erwarten verkehren die Züge von Kiew in die polnische Grenzstadt Przemysl doch noch, allerdings mit viel Verspätung. Auf dem Bahnsteig warten gut gekleidete Reisende mit eher wenig Gepäck, darunter auffallend viele junge Eltern mit Kindern.

Sergej und Marina harren schon seit über zweieinhalb Stunden aus. Sie wollten eigentlich von Lwiw aus nach Polen fliegen, Marina zur Fabrikarbeit nach Wroclaw, Sergej über Warschau weiter in die Niederlande, wo er als IT-Techniker arbeitet. Doch der Luftraum ist gesperrt. "Ich habe Angst, dass sie mich jederzeit in die Armee berufen können", sagt Sergej, Und Marina erzählt verzweifelt: "Ich wäre am liebsten bei meinen Eltern geblieben, aber damit verlöre ich meine Arbeitsstelle in Polen." Sergej will erst einmal in Warschau Station machen und versuchen, seine Eltern außer Landes zu schaffen.

Er ist einer der letzten wehrfähigen Ukrainer, die das Land noch verlassen können. Seit dem zweiten Kriegstag dürfen Männer im Alter von 18 und 60 Jahren die Ukraine nicht mehr verlassen.

Tränen im Zug

Als der hochmoderne "Intercity Plus" aus Kiew endlich einfährt, entleeren sich die sieben Waggons zur Hälfte mit Reisenden, die Lwiw noch als sicheren Hafen sehen. Fahrkarten- und Covidpass-Kontrolle beim Einstieg entfallen. Auf der zu Friedenszeiten etwa einstündigen Weiterfahrt ins 90 Kilometer entfernte Nachbarland Polen preisen Werbefilme die touristischen Schönheiten der Ost- und Westukraine - Burgen, Berge, Steppe. Der Zug gleitet so fast schwerelos durch Dörfer und Felder. Bleischwer indes sind die Gespräche der Reisenden, untereinander - und mit ihren Liebsten, die in der Ukraine zurückgeblieben sind. Am Grenzbahnhof Schehyni ist es draußen bereits stockdunkel. Nur ein Kilometer ist es bis nach Polen - und damit in die Sicherheit - doch der Zug bleibt lange stehen. Wasili zeigt auf dem Smartphone Fotos seiner Kinder auf dem Schlitten im Schnee; die Reisende gegenüber dagegen ist ganz weit anderswo. Tränen laufen über ihre Wangen, sie verschmieren die schwarze Wimperntusche, es ist ihr egal.

Kaum ist der Zug mit über vierstündiger Verspätung am polnischen Grenzbahnhof Przemysl eingetroffen, öffnen sich automatisch die Türen, und der Schaffner hilft beim Aussteigen. Schwere Koffer und Kinderwagen werden auf den Bahnsteig gehoben. Die Passkontrolle geht zügig und betont freundlich vonstatten. Ein Covid-Zertifikat muss erneut man nicht vorzeigen. "Das geht schneller", sagt ein polnischer Grenzer. Das Gepäck wird nur oberflächlich kontrolliert.

Und dann stehen die Flüchtlinge aus der Ukraine plötzlich am kaum beleuchteten Hinterausgang des Bahnhofs in der kalten polnischen Nacht. Freiwillige Helfer versuchen sie hier abzufangen, bieten Gratisbusfahrten nach Krakau, Wroclaw oder gar Warschau an. Viele der übermüdeten Ankömmlinge reiben sich ungläubig die Augen, und gehen stattdessen weiter durch eine Unterführung ins Hauptgebäude. Dort hat die polnische Feuerwehr eine Mitfahr- und Übernachtungsbörse eingerichtet. Wer will, kann die Handynummer hinterlassen und auf einer Liste eintragen, wohin wie viele Personen müssen, oder ob sie in Przemysl übernachten wollen. Selbst Visitenkarten von Arbeitsvermittlern liegen hier aus. In der Haupthalle des Bahnhofs ist zudem ein riesiger Esstisch aufgestellt. In den Seitengängen verteilen Feuerwehrleute Suppe und Mineralwasser, aber auch Windeln und Kinderspielzeug.

Überwältigende Hilfsbereitschaft

Die zehnjährige Kira hat ein Kissen in der Form einer Himbeere bekommen. Sie liegt auf einem gelben Feldbett in einer Nebenhalle und versucht einzuschlafen. "Mein Hamster musste zuhause bleiben, mein Vater auch", berichtet das Mädchen. Ihre Mutter wehrt derweil entnervt einen Pressefotografen ab. "Berichtet besser über diese unglaubliche Solidarität der Polen als über uns Flüchtlinge", sagt sie.

Die spontane Unterstützung vor Ort ist in der Tat warmherzig und selbstlos. Nichts erinnert mehr an Polens Aufnahmeverweigerung während der Flüchtlingskrise 2015. Seit Kriegsbeginn sind laut Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen Stand Donnerstag mehr als 1,2 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Polen hat seither fast 650.000 Kriegsflüchtlinge aufgenommen. In den vier Nachbarländern Slowakei, Ungarn, Rumänien und Moldau haben zusammen über 390.000 Ukrainer Zuflucht gefunden.

An den Grenzen bilden sich indes lange Schlangen. Am schlimmsten ist es an der Grenze zu Polen: Dorthin wollen die meisten der Flüchtlinge, weil hier bereits über eine Millionen ukrainische Gastarbeiter leben. Doch nach Polen gibt es nur neun Grenzübergänge. Am längsten wartet man am Checkpoint Schehyni-Medyka - bis zu 50 Stunden, berichten Flüchtlinge.

Im Grenzort Medyka auf der polnischen Seite wird das Gewühl mit der hereinbrechenden Nacht noch unübersichtlicher. Hier warten Hunderte von Autos, teils mit laufendem Motor, auf ankommende Freunde und Verwandte. Die meisten der Fahrzeuge gehören ukrainischen Gastarbeitern in Polen. Doch auch viele Pkws und Kleinbusse kommen zum Beispiel aus Frankreich, Deutschland oder Tschechien. An der östlichen Ausfahrtstrasse der 60.000-Einwohnerstadt Przemysl kontrolliert die Polizei. Freiwillige Kämpfer , welche die Ukraine unterstützen wollen, genießen Priorität bei der Weiterfahrt ins 14 Kilometer entfernte Grenzdorf; gewöhnliche Ukrainer, die ihre Verwandten abholen wollen, müssen warten. Die Regierung in Warschau wird währenddessen nicht müde zu betonen, alle Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine seien willkommen. 98 Prozent der Ukrainer wollen laut Vize-Innenminister Maciej Wasik in Polen bleiben.

Der Autor ist freier Osteuropa- Korrespondent.