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Lüders "Hybris am Hindukusch" : Niederlage des Westens

Michael Lüders kritische Analyse des gescheiterten Einsatzes am Hindukusch.

11.04.2022
2024-01-04T16:03:13.3600Z
3 Min
Foto: picture-alliance/ZUMAPRESS.com/Msgt. Donald R. Allen/U.S. Air

Das Ende des Afghanistan-Engagements: Evakuation afghanischer Zivilisten im August 2021am Kabuler Flughafen.

Die Corona-Pandemie, die Flutkatastrophe im Sommer 2021 und zuletzt Putins Krieg gegen die Ukraine verdrängten die Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr. Auch die geplante Enquete-Kommission des Bundestages lässt bislang auf sich warten. Diese Lücke versucht der Orient-Kenner Michael Lüders mit seiner empfehlenswerten Streitschrift zumindest teilweise zu schließen.

Als Nahost-Korrespondent der Wochenzeitung "Die Zeit" veröffentlichte Lüders einige kenntnisreiche und lesenswerte Bücher über den Nahen und Mittleren Osten. Er ist Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft und damit Nachfolger des verstorbenen Journalisten und Filmemachers Peter Scholl-Latour. Wie sein meinungsstarker Vorgänger bevorzugt auch Lüders Klartext: Der Afghanistan-Krieg "war in erster Linie ein Verbrechen an der afghanischen Zivilbevölkerung".

Realitätsverleugung auf Regierungsebene

An den Anfang seines Buches stellt Lüders eine Zitatensammlung. Lüders will die großen Lügen und die Realitätsverleugnung enthüllen, die zur vernichtenden Niederlage eines großen westlichen "Demokratisierungs-Projekts" führten. Zuerst zitiert Lüders US-Präsident George W. Bush mit seinem berühmten Ausspruch vom Mai 2003: "Wir haben die Taliban vernichtet." Danach folgt Mullah Omar, der Anführer der Taliban, mit dem Satz: Die Vereinigten Staaten erwarte in Afghanistan "eine vernichtende Niederlage. Nicht anders, so Gott will, wie es vor ihnen den Sowjets und den Briten ergangen ist". Es folgt die 1989 verstorbene Historikerin Barbara Tuchman: "Realitätsverleugnung (...) spielt eine bemerkenswert große Rolle auf Regierungsebene. Wunschdenken führt dazu, die Faktenlage zu übersehen". Mit Blick auf das unrühmliche Ende der Nato-Mission in Afghanistan fragt Lüders: Was bedeutet diese gravierende Fehleinschätzung heute für die Politik der Nato gegenüber Russland und China?

Lüders attestiert dem Westen im Fall Afghanistans Hybris und kritisiert dessen Ignoranz gegenüber den kulturell-politischen Traditionen der Völker am Hindukusch. Eindringlich warnt er vor einem "Tunnelblick" der Politik, der dazu führe, dass am Ende doch das "Streben nach Vorherrschaft universell humanitäre Werte missachtet und missbraucht". Bei aller berechtigten Kritik vermisst man als Leser spätestens an dieser Stelle dann doch einen Blick auf die islamistische Terrorherrschaft der Taliban und deren Unterstützung des Terrornetzwerkes Al-Qaida. Die Verharmlosung der paschtunischen Stammesgesetze gehört zu den größten Schwächen von Lüders' Buch.

900.000 Tote in 20 Jahren

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 seien die USA auf Rache aus gewesen, stellt Lüders fest. Es begann "der Krieg gegen den Terror", der zum Blankoscheck für den "militärisch-industriellen Komplex" nicht nur in den USA wurde. Zwischen 2001 und 2021 forderte dieser Krieg nach Angaben der amerikanischen Brown University mehr als 900.000 Menschenleben und kostete mehr als acht Billionen US-Dollar. Der Anteil des Afghanistans-Engagements an diesem globalen Krieg belief sich auf 2,2 Billionen US-Dollar.

Lüders bescheinigt den amerikanischen Regierungen "Verblendung und schlichte Dummheit". Der Afghanistan-Krieg mit seinen 241.00 getöteten Afghanen, ein Drittel davon Zivilisten, hätte vermieden werden können, ist er sich sicher. Weder die USA noch die Nato hatten ein klares Kriegsziel in Afghanistan.

Der Westen habe zudem den großen Fehler begangen, auf die von ihm installierten Marionettenregierungen zu setzen. Politische Demokratisierungsziele seien für die westlichen Gesellschaften inszeniert und mittels Wahlfälschungen scheinbar realisiert worden. Davon profitierten vor allem die korrupten Regierungen von Hamid Karsai und Ashraf Ghani, die einige Milliarden US-Dollar internationaler Finanzhilfen unterschlagen hätten. In diesem Zusammenhang verweist Lüders auf die "Afghanistan Papers", die in den USA veröffentlichten Geheimdokumente der Regierungsstellen. Danach verschwanden etwa 800 Milliarden US-Dollar in dunklen Kanälen, obwohl sie für den Krieg in Afghanistan bereitgestellt waren.

Der Fall Kundus

Neben seiner scharfen Kritik an der Kriegsstrategie Washingtons in Afghanistan erhebt Lüders auch schwere Vorwürfe gegen Deutschland. Detailliert beschreibt er den bekannten Fall der Bombardierung des von den Taliban entführten Tanklasters bei Kundus auf Befehl von Oberst Georg Klein am 3. September 2009. Damals seien zwischen 100 und 150 Menschen getötet worden. "Die allermeisten dieser Toten waren Zivilisten", schreibt Lüders und verurteilt die "Fehleinschätzung Kleins", der "nie das geringste Bedauern, geschweige denn Reue für seine ebenso fragwürdige wie mörderische Entscheidung gezeigt hat". Arbeitsminister Franz Josef Jung (CDU) musste schließlich wegen seiner Informationspolitik als Verteidigungsminister im Fall Kundus zurücktreten. Am Ende der Kundus-Affäre habe Anfang Dezember 2011 eine "zahme Abschlussdebatte im Bundestag" über die Ergebnisse des eingesetzten Untersuchungsausschusses stattgefunden.

Michel Lüders:
Hybris am Hindukusch.
Wie der Westen in Afghanistan scheiterte.
C.H. Beck,
München 2022,
203 S., 14,95 €