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Ukraine-Krieg : Kampf um die Identität

Der amerikanisch-ukrainische Historiker Serhii Plokhy zeichnet in seinem Buch "Die Frontlinie" die langen Konfliktlinien mit Russland nach.

27.06.2022
2024-02-26T15:39:26.3600Z
6 Min
Foto: picture-alliance/AA/Metin Aktas

Zeichen der Selbstbehauptung: In den Trümmern eines durch den Krieg zerstörten Gebäudes in der Stadt Irpin nahe Kiew weht eine ukrainische Flagge.

Ob Appeasement-Politik funktioniert, kann man nach dem russischen Überfall auf die Ukraine getrost hinterfragen. Laut Serhii Plokhy hat der russisch-ukrainische Konflikt nicht mit einem Luftangriff auf Kiew im Morgengrauen des 24. Februar 2022 begonnen, sondern vor acht Jahren, mit der russischen Annexion der Krim im Frühling 2014. Die internationale Gemeinschaft habe die aggressive Politik Russland jedoch "weitgehend ignoriert", konstatiert der Direktor des Harvard Ukrainian Research Institute.

Plokhy wurde im russischen Nischnij Nowgorod geboren und beendete 1980 sein Geschichtsstudium als Diplom-Historiker in Dnipro (Ukraine). Nach dem Zerfall der Sowjetunion wanderte er zuerst nach Kanada aus - dort gibt es eine große ukrainische Diaspora -, später ging er in die USA, um seine wissenschaftliche Karriere fortzusetzen.

Plokhys Expertise wird auch in Russland anerkannt

Die Bücher des Professors für ukrainische Geschichte sind allesamt Standardwerke und damit Pflichtlektüre für jeden, der sich mit der Geschichte und der Politik der Ukraine beschäftigt. Plokhys Expertise wird auch in Russland anerkannt und geschätzt: Seine vier Bücher wurden im renommierten "Corpus" Verlag der AST-Verlagsgruppe auf Russisch veröffentlicht. Diese Tatsache ist hoch bedeutsam, denn nach der Eroberung der Krim lief die Propaganda-Kampagne des Kremls gegen die Unabhängigkeit der Ukraine auf Hochtouren.

In Deutschland interessierte man sich lange nicht sonderlich für die ukrainische Geschichte und Politik - mit Ausnahme der Zeitschrift "Osteuropa", die kompetent über die Ereignisse in der Ukraine berichtete. In deutscher Sprache standen dem interessierten Publikum nur zwei empfehlenswerte Taschenbücher von Professor Andreas Kappeler zur Verfügung: "Die kleine Geschichte der Ukraine" sowie "Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer". Nunmehr können die Leser hierzulande auch von Serhii Plokhys Werk profitieren.


„Plokhy hat ein chronologisch strukturiertes Buch vorgelegt, in dem er die Geschichte der Ukraine, ihre Politik, Kultur, Sprache und Identität beschreibt.“

Der Historiker betrachtet es als seine Aufgabe, die wahren Motive der russischen Aggression gegen die Ukraine darzulegen. Entgegen den Behauptungen Putins handle es sich bei dem Angriffskrieg nicht um eine Reaktion auf eine mögliche Nato-Erweiterung, sondern um den Versuch, die Geschichte umzuschreiben und der Ukraine das Recht auf staatliche Unabhängigkeit sowie eine eigene nationale Identität zu verweigern. Putin wolle die Welt glauben machen, Ukrainer und Russen gehörten demselben Volk an. Entsprechend sei die Ukraine nur ein von den Bolschewiken gegründetes künstliches administratives Gebilde.

Plokhy hat ein chronologisch strukturiertes Buch vorgelegt, in dem er die Geschichte der Ukraine, ihre Politik, Kultur, Sprache und Identität beschreibt - unter besonderer Berücksichtigung "ihrer langen, stürmischen und häufig tragischen Beziehung zu Russland". Er arbeitet heraus, dass das ukrainische Volk im Laufe der Jahrhunderte politisch und kulturell getrennt wurde, so dass Sprache und Konfession den Vorgaben der jeweiligen Landesherren folgten. Zugleich erklärt die Teilung der Ukraine, warum die Geschichtsschreibung Russlands die Existenz des ukrainischen Volkes verneint.

Erstmals taucht der Begriff "Ukraine" im 12. Jahrhundert auf

"Kosakenstamm" heißt der erste Teil des Buches. Plokhy bezieht sich damit auf eine Zeile der ukrainischen Nationalhymne aus dem 19. Jahrhundert, die "allen Ukrainern eine kosakische Abstammung zuschrieb". Damit wurde das "Kosakentum zum Gründungsmythos der modernen ukrainischen Nation". Erstmals taucht der Begriff "Ukraine" im 12. Jahrhundert auf. Das heutige Staatsgebiet ist 1650 auf der Karte eines französischen Kartographen zu finden. Detailliert beschreibt der Historiker die Ereignisse bis zum Vertrag von Perejaslaw (1654). Nach russischer Lesart handelte es sich dabei um eine freiwillige Union der ukrainischen Kosaken mit dem christlich-orthodoxen Moskauer Reich gegen Polen-Litauen. Auch die russisch-schwedische Schlacht bei Poltawa von 1709 ist ein wichtiger Bestandteil der Geschichtsmythen beider Völker: Aus russischer Perspektive wird der ukrainische Kosake Hetmat Iwan Masepa als "zweiter Judas" und Überläufer verdammt, weil er Peter den Großen im Kampf gegen ausländische Mächte verraten habe.

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Im Zuge der Februar-Revolution in Russland proklamierte der Zentralrat im Juni 1917 einseitig die territoriale Unabhängigkeit der Ukraine; damit vorbei war es bereits 1922 mit ihrer gewaltsamen "Sowjetisierung". Der Hungerkatastrophe von 1931 bis 1933 räumt der Historiker viel Platz ein. Stalins Politik führte dazu, dass fast vier Millionen Menschen den Hungertod erlitten. Die ukrainische Regierung bewertet dieses Menschheitsverbrechen als Völkermord, während Russland von einer Katastrophe spricht, die die gesamte Sowjetunion betroffen habe.

Weitere Themen in Serhii Plokhys Geschichte der Ukraine beziehen sich auf den Reaktorunfall in Tschernobyl im April 1986, der den Niedergang der Sowjetunion mit herbeiführte. Der Autor erläutert, warum "Tschernobyl" die Initialzündung für die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung war. Unterstützt wurde sie vom früheren KP-Chef und ersten Präsidenten der unabhängigen Ukraine, Leonid Krawtschuk. Die Staatswerdung der Ukraine förderte übrigens auch der erste demokratische Präsident Russlands, Boris Jelzin.

Serhii Plokhy:
Die Frontlinie.
Warum die Ukraine zum Schauplatz eines neuen Ost-West-Konflikts wurde.
Rowohlt Verlag,
Hamburg 2022:
543 S., 30 €