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Gastkommentare : Pro und Contra: EU-Kandidatenstatus für die Ukraine nur Symbolik?

Europa gibt der Ukraine den EU-Kandidatenstatus. Ist das nur Symbolpolitik oder ein starkes Signal in schwierigen Zeiten?

27.06.2022
2024-02-26T10:28:35.3600Z
4 Min

Pro

Skepsis bleibt

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Hans Monath
ist Korrespondent bei "Der Tagesspiegel" in Berlin.
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Der Satz, den Kanzler Olaf Scholz in Kiew aussprach, ist richtig: Die Ukraine gehört zur europäischen Familie. Das war schon vor dem Krieg so, aber die anderen Europäer schauten kaum hin. Der Angriff Russlands und der Mut der ukrainischen Nation im Kampf gegen den übermächtigen Gegner haben das geändert. Nun schaut Europa hin - und gibt der Ukraine den EU-Kandidatenstatus.

Noch scheint das Land weit davon entfernt, die Beitrittskriterien zu erfüllen, wenn man etwa auf die Korruption schaut. Aber die Entscheidung stärkt die Angegriffenen gegen Russlands Anmaßung, ihnen die Selbstbestimmung zu verweigern. Und sie wird Reformen ermutigen. Der Einwand ist berechtigt, dass sich solche Hoffnungen auch bei anderen Beitrittskandidaten nicht erfüllten, im Fall der Türkei etwa. Aber der neue Anwärter bringt gute Voraussetzungen mit, auch wenn die Schwierigkeiten immens sind: Die Ukraine ist eine junge Staatsbürgernation, die sich nicht auf ethnische Herkunft, sondern auf das Bekenntnis zu Demokratie und westlichen Werten gründet. Das Herz des Landes schlägt europäisch.

Mit der Entscheidung zum Kandidatenstatus beginnt nun ein langer Prozess. Aber solange die EU sich vor einer Beitrittsentscheidung nicht selbst reformiert, bleibt er ein symbolischer Schritt. Denn vor jeder Aufnahme eines neuen Mitglieds muss die EU den Zwang zur Einstimmigkeit bei wichtigen Entscheidungen abschaffen. Sonst wird sie handlungsunfähig. Und da ist Skepsis angebracht. Fünf Beitrittskandidaten gab es schon bisher, ohne dass dies den Reformeifer in Brüssel erkennbar beflügelt hat. Dies zu ändern, ist jedoch kein Auftrag an die Ukraine, sondern an die 27 Mitglieder selbst.

Contra

Gefährliche Formel

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Christian Kerl
ist Korrespondent der Funke-Mediengruppe.
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Es hat gewiss etwas Beruhigendes, den Status der Ukraine als EU-Beitrittskandidat zur bloßen Symbolpolitik zu erklären. So lassen sich alle Probleme und Herausforderungen, die eine Mitgliedschaft des großen, bitterarmen Landes in der Europäischen Union hätte, ausblenden.

Hat sich die EU im Umgang mit Beitrittskandidaten nicht sowieso viel Heuchelei angewöhnt? Vorsicht: Die Erwartung, die ukrainische Bewerbung ließe sich so vertrödeln wie etwa jene der Türkei, verkennt die Lage. Die Ukraine kann sich gar nicht vertrösten lassen. Es geht um ihr Überleben. Der Druck, den Nachbarn in Not zügig in den Club und damit unter den Schutz eines europäischen Beistandsversprechens im Fall eines Angriffs zu holen, wird angesichts der instabilen Lage schnell wachsen - aus der Ukraine, in der Union und von den USA. Russland oder EU: Das sind die Alternativen, nachdem die Nato als Schutzschirm wohl ausfällt. Kann sich die EU da wirklich erlauben, das Land jahrzehntelang warten zu lassen?

Die Regierung in Kiew wird alles versuchen, mit Reformen im Eiltempo, aber vielleicht ohne Bestandsgarantie, die Bedingungen zu erfüllen; der Anspruch auf eine Milliardensumme an Beitrittshilfen aus der EU-Kasse wird das erleichtern. Gut möglich, dass die Union in dieser historischen Situation nicht ganz so penibel auf die Erfüllung aller Beitrittskriterien bestehen kann. Wenn es um Übergangslösungen und andere Kompromisse geht, kennt der Brüsseler Erfindungsreichtum keine Grenzen. Das macht die Beruhigungsformel von der Symbolpolitik so gefährlich: Sie verdeckt die Herausforderung für die EU, sich sehr schnell auf die Erweiterung vorzubereiten.