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Foto: picture-alliance/NurPhoto/Beata Zawrzel/ZUMAPRESS.com/Paolo Bovo/U.S. Army
US-Fallschirmjäger proben den Ernstfall vor idyllischer Kulisse in Italien: Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine Ende Februar stellt sich das transatlantische Verteidigungsbündnis neu auf.

Neue Geschlossenheit der Nato : Putin ante portas

Gegen die russische Bedrohung in Europa setzt das Bündnis auf Aufrüstung und Abschreckung. Der Krieg in der Ukraine hat zu unerwartet neuer Geschlossenheit geführt.

08.08.2022
2024-03-15T11:55:23.3600Z
6 Min

Krieg riskierend, Frieden diktierend sei er und Grenzen überschreitend, den Status quo nicht achtend, das Militär schnell einsetzend - so hat der Historiker Jürgen Osterhammel den Imperialismus des 19. Jahrhunderts beschrieben. Imperialistische Politik gehe von einer Hierarchie der Völker aus, von Starken und Schwachen: Deshalb sähen sich Imperialisten zivilisatorisch überlegen und zur Herrschaft über andere berechtigt. Spätestens nach dem 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine, muss man für Russland und seinen Präsidenten Wladimir Putin hinter allen Punkten dieser Definition wohl einen Haken setzen.

Im Kreml schlägt die Propaganda Purzelbäume

Für Europa ist das eine irritierende Erfahrung. Der Kontinent, der nach 1989/1990 auf eine Friedensordnung setzte, in der nicht das Recht des Stärkeren gelten soll, sondern die Stärke des Rechts, sieht sich mit einem Nachbarn konfrontiert, der für sich das Recht des "Sammelns russischer Erde" beansprucht, als säße im Kreml ein Zar mit Krone, Apfel und Zepter unter dem Doppeladler und nicht ein gelernter Oberstleutnant des KGB und ehemaliger Vizebürgermeister. Der Zerfall der Sowjetunion bereitet imperialen Phantomschmerz, ein steter Quell revisionistischen Grolls. Die Nato-Erweiterung erscheint aus diesem Blickwinkel nicht als Bündnisentscheidung mündiger Mittel- und Osteuropäer nach 1989, sondern als Versuch, Russland zu spalten. Die Globalisierung? Eine westliche Agentin. Eine Ukraine, die nicht russisch sein will? Eine Washingtoner Intrige. Raketen auf Theater und Kliniken in Mariupol? "Fake News" oder Provokationen ukrainischer "Bandera-Nazis". Dieser Krieg, der aber übrigens gar keiner sei, sei Russland vom "kollektiven Westen" aufgezwungen worden, so ließe sich das wohl zusammenfassen. Im Kreml schlägt die Propaganda Purzelbäume.

Foto: picture alliance/dpa/Sina Schuldt

Für die Nato-Einsatztruppe "Enhanced Forward Presence" in Litauen sind 900 Bundeswehrangehörige entsendet, 350 weitere sollen folgen.

Die gesamteuropäische Friedensordnung nach 1989 ist mit dem Angriff auf die Ukraine Geschichte. Sie lässt sich entlang der Meilensteine der Helsinki-Schlussakte 1975, der Charta von Paris 1990 bis zur Nato-Russland-Grundakte schildern. In ihrem Kern setzt sie auf ein auf Werte und Normen gestütztes Ordnungssystem, in dem Kooperation Konfrontation ersetzen soll und damit sowohl Prosperität als auch politische Stabilität erreicht werden sollen. Sicherheit durch wachsende Interdependenz, Wandel durch Handel - beides ist durch Russlands Krieg nicht Makulatur geworden, in Bezug auf den großen Nachbarn im Osten aber gescheitert.

Reaktion auf die Sorge der baltischen Staaten und Polens vor russischer Aggression

Zu unerwartet neuer Geschlossenheit hat dieser Krieg im westlichen Militärbündnis geführt. Der Fokus liegt wieder auf der Kernaufgabe: die Verteidigung der Nato-Mitgliedsländer - die wechselseitige "Lebensversicherung" der Beistandsverpflichtung, niedergelegt in Artikel 5 des Nordatlantikvertrags, der auf das in Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen anerkannte Recht der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung aufbaut.

Auf die Sorge der baltischen Staaten und Polens vor russischer Aggression hat die Nato zunächst eher verhalten und nun umfassend reagiert: Nach der russischen Krim-Annexion 2014 wurden im Rahmen der "Enhanced Forward Presence" Nato-Kampfgruppen mit zusammen insgesamt knapp 5.000 Soldaten in diese Länder gewissermaßen als "Stolperdraht" entsendet, die nun in jedem der vier Länder auf Brigadeniveau (3.000 bis 5.000 Soldaten) aufstockt werden sollen - in Litauen unter Bundeswehr-Führung. Die schnell einsatzbereite und schnell zu verlegende Eingreiftruppe "Nato Response Force" soll längerfristig von heute 40.000 auf 300.000 aufgestockt werden, darunter 15.000 Bundeswehrsoldaten. Sie setzt sich aus nationalen Streitkräften zusammen, untersteht im Ernstfall aber dem Nato-Kommando. Und: Schweden und Finnland, die bisher bündnispolitisch dezidiert blockfreien Länder, streben ins Bündnis. Wenn Putin die "Finnlandisierung Europas" im Sinne hatte, so bekomme er nun die "Natoisierung Europas" - so hat es US-Präsident Joe Biden beim Nato-Gipfel in Madrid im Juni beschrieben. Für das Bündnis ist Russland seit diesem Gipfel die "größte und unmittelbarste Bedrohung".

Neue Bündnisentschlossenheit wirft Fragen auf

Mit Aufmerksamkeit wird die deutsche "Zeitenwende" im Bündnis verfolgt, verstanden als Abkehr von ausgeprägter Rücksichtnahme auf Russland: Deutschland wird, mit Abstrichen und bei anhaltender Kritik aus Osteuropa, nicht mehr als unsicherer Kantonist mit russischem Erdgas-Anschluss wahrgenommen, sondern als Land, das Verteidigungslasten mit einem "Sondervermögen" in Höhe von 100 Milliarden zu schultern bereit ist und schwere Waffen an die Ukraine liefert.


„Wir wollen, dass Russland so weit geschwächt wird, dass es zu so etwas wie dem Einmarsch in die Ukraine nicht mehr in der Lage ist.“
Lloyd Austin, Pentagon-Chef

Die neue Bündnisentschlossenheit wirft allerdings Fragen auf. So wurde die Nato noch vor gar nicht langer Zeit von prominenter Seite als Auslaufmodell bezeichnet; das reichte von "obsolet" (Donald Trump, 2017) bis "hirntot" (Emmanuel Macron, 2019). Die Kritik könnte zurückkehren. Denn für Europa hält die wachsende Rivalität zwischen den USA und China, die Sorge vor einem Teilrückzug der USA aus Europa, weiterhin unangenehme Fragen an die globale oder auch nur kontinentale Projektion eigener Handlungsfähigkeit bereit: Sollen die Europäer die eigene Verteidigungsfähigkeit innerhalb des Bündnisses oder auch neben der Nato verstärken? Wenn sie letzteres bejahen, soll dies durch eine Bündelung der nationalen Streitkräfte und gemeinsame Rüstungsbeschaffungen geschehen oder durch eine eigens zu schaffende EU-Armee? Wären die EU-Staaten dafür bereit, Souveränität nach Brüssel zu übertragen? Und schließlich: Soll sich der Kontinent weiter der nuklearen Abschreckung im Rahmen der Nato anschließen oder ein eigenes, auf den Potentialen der Atommächte Frankreich und möglicherweise Großbritannien aufbauendes Nukleardispositiv entwickeln? Oder soll Europa im Gegenteil, wie dies nicht nur Pazifisten fordern, die Finger von dieser Büchse der Pandora lassen und sich dem Atomwaffenverbotsvertrag anschließen?

Ziel im Ukraine-Krieg: Preis für den Aggressor erhöhen

Auch das Kapitel, mit dem die Nato nach Ende des Kalten Krieges zu einem Interventionsbündnis avancieren wollte, enthält noch viele offene Fragen - sie reichen von den Nato-Luftschlägen gegen Serbien im Kosovokrieg 1999 ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates bis zum Desaster des Abzugs aus Afghanistan 2021, ein Einsatz, der nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 ursprünglich als erster Nato-Bündnisfall nach Artikel 5 begonnen hatte. Als der russische Präsident im April dieses Jahres UN-Generalsekretär António Guterres traf, verwies er auf das Vorbild Kosovo, auf das sich Russland mit seiner Anerkennung der "Volksrepubliken" in Donezk und Luhansk völkerrechtlich doch berufen könne.

Die Nato-Partner setzen darauf, die Ukraine mit Waffenlieferungen zu stärken und den Preis für den Aggressor zu erhöhen. Es gibt dabei aber eine rote Linie: Keine Nato-Flugverbotszone, keine direkte Konfrontation mit russischen Truppen, die womöglich das Risiko eines nuklearen Konflikts heraufbeschwören würde. "Wir wollen, dass Russland so weit geschwächt wird, dass es zu so etwas wie dem Einmarsch in die Ukraine nicht mehr in der Lage ist", sagte Pentagon-Chef Lloyd Austin im April. Es sind Aussagen wie diese, die eine nachvollziehbare Kritik befördern, die Ukraine werde "verheizt". Der Ruf nach einem Verhandlungsfrieden, der in offenen Briefen formuliert wird, weicht allerdings der Frage aus, warum die Ukrainer es selbst sind, die so vehement die westlichen Waffenlieferungen einfordern. Und ob es für Russland überhaupt etwas zu verhandeln gibt.

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Ökonomisch betrachtet ist die Atom- und UN-Vetomacht Russland ein Scheinriese. 2021 lag das Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei 1,78 Billionen US-Dollar, das ist weniger als das BIP der Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg zusammengenommen. Ob Maschinen, Fahrzeugteile, Elektronik und Elektrotechnik, Metallwaren, Mess- und Regeltechnik: Die westlichen Sanktionen treffen Russland empfindlich, auch wenn der Kreml anderes behauptet. Es ist ein ökonomischer Schock auf Raten, der auch das militärische Potenzial unterminieren dürfte. Die größte Panzerfabrik der Welt, Uralwagonsawod in Nischni Tagil, musste die Produktion neuer Kampfpanzer einstellen, weil westliche Komponenten-Lieferungen ausbleiben.

Europa setzt wieder auf die Abschreckung und wird dafür in die transatlantischen Arsenale einzahlen. Ein russischer "Erfolg" in der Ukraine, so sehen das die meisten, würde den Großreich-Appetit weiter anheizen. Dieser Krieg ist aber eben auch Ergebnis eines europäischen Scheiterns, transatlantischen Scheiterns und übrigens auch eines Scheiterns deutscher Energie-, Sicherheits-, Russlandpolitik. Dass es nicht gelungen ist, nach 1989 eine Friedensordnung in Europa mit Russland zu finden, über wechselseitige Bedrohungswahrnehmungen zu sprechen, Rüstungskontrolle und -begrenzung voranzutreiben, ist ein Versäumnis vieler Akteure. Den Preis für dieses Scheitern zahlen heute die Ukrainerinnen und Ukrainer.