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Foto: picture-alliance/dpa/ZB/Hendrik Schmidt
Seit 1894 ist Freyburg/Unstrut Standort der Sektkellerei Rotkäppchen. Das unternehmen zählt heute zu den erfolgreichsten Ost-Unternehmen.

Aufbau Ost : Vom Weltmarkt überrollt

Die Wirtschaft in den neuen Ländern hat sich vom Systemwechsel nach 1990 nur mühsam erholt - regional entwickelte sie sich sehr unterschiedlich.

22.08.2022
2024-03-04T11:07:28.3600Z
5 Min

Berlin-Alexanderplatz, 1. Juli 1990, kurz vor null Uhr: Tausende DDR-Bürger drängeln sich in der fast 600 Meter langen Schlange vor der Filiale der Deutschen Bank. Es kommt zu Tumulten, Glasscheiben brechen, die Polizei muss für Ordnung sorgen. Um Mitternacht knallen Sektkorken, Raketen schießen in die Luft - ein Hauch von Silvester mitten im Sommer. Ausgelassen feiern die Menschen den Start der Wirtschafts- und Währungsunion, sie können es kaum erwarten, endlich Westgeld in den Händen zu halten. In den 14 DDR-Bezirken und Ost-Berlin sind sozialistische Planwirtschaft und Ostmark ab jetzt passé, sie werden abgelöst von D-Mark und Marktwirtschaft. Doch die Euphorie währt nur kurz. In den Folgewochen verschwinden viele günstige Ostprodukte aus den Regalen, die übrigen Lebensmittel sind teilweise dreimal so teuer.

Besonders hart trifft die Umstellung die ostdeutsche Wirtschaft. Praktisch über Nacht sind die 167 DDR-weiten Kombinate nicht mehr konkurrenzfähig. Ohne Übergangszeit sind sie dem Weltmarkt ausgesetzt, obwohl ihre Produktivität im Durchschnitt gerade einmal einem Drittel der westdeutschen Wirtschaft entsprach. 80 Prozent der Arbeitnehmer der DDR arbeiteten in solch einem Konglomerat. Ein Jahr nach der Wende sind viele Betriebe pleite und Zehntausende Menschen arbeitslos.

Sanierung der maroden Infrastruktur 

Die Talfahrt hielt noch Jahre an. Dabei trieb die damalige Bundesregierung den Aufbau Ost mit neuen, tragfähigen Wirtschaftsstrukturen auf mehreren Ebenen voran. Die Treuhandanstalt sollte die Betriebe nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen umgestalten und bisher volkseigenes Vermögen in Privateigentum umwandeln. Große Kombinate wurden in mehrere kleinere Betriebe aufgeteilt, die dann privatisiert oder abgewickelt wurden. Mit großzügigen Staatshilfen sollten industrielle Kerne erhalten werden, etwa die Mikroelektronik in Dresden, die optische Industrie in Jena, die Werften an der Küste, Energie und Stahl in Brandenburg oder die Chemiefabriken in Sachsen-Anhalt. Auch wurde begonnen, die vielfach marode Infrastruktur zu sanieren. In vielen Orten wurden Gewerbegebiete erschlossen, die Telekom baute ein flächendeckendes Kommunikationsnetz auf. Der dadurch ausgelöste Bauboom schaffte schnell Tausende neue Arbeitsplätze.

Foto: picture alliance / Jörg Carstensen | Joerg Carstensen

In vielen Regionen Ostdeutschlands werden Flächen nicht genutzt. In der Uckermark im Nordosten Brandenburgs gibt es noch immer kaum Industrieunternehmen.

Die sanierten Großbetriebe sollten sich zu wirtschaftlichen Leuchttürmen entwickeln, mit Strahlkraft weit über das jeweilige Unternehmen hinaus. Die neuen Bundesländer trieben Neugründungen mit eigenen Förderprogrammen voran. Doch besserte sich die Lage nur langsam. Besonders schlimm grassierte die Wirtschaftskrise Berlin: In den ersten Jahren nach dem Fall der Mauer verlor die Stadt rund 300.000 Industriearbeitsplätze - und das nicht nur im Ostteil. In West-Berlin hatten sich viele Gewerbebetriebe nur wegen der üppigen Berlin-Förderung niedergelassen, mit der Westdeutschland die Inselstadt während des Kalten Krieges am Leben hielt. Als die Förderung 1994 auf einen Schlag gekappt wurde, zogen viele Unternehmen ab.

Auch die Treuhand war nicht sehr erfolgreich: Rechneten Experten anfangs mit einem Erlös von rund 400 Milliarden Euro für die Privatisierung der DDR-Staatswirtschaft, stand am Ende unter dem Strich ein Verlust von 204 Milliarden Euro. Zwar sind viele neue Unternehmen in den neuen Bundesländern entstanden und alte wieder wettbewerbsfähig gemacht worden. Doch bis heute hinkt die Wirtschaft im Osten der im Westen hinterher.

Abwanderung gut qualifizierter Arbeitnehmer in den Westen

Zwar fanden die alten industriellen Kerne, etwa die Raffinerie in Leuna, die Autowerke in Eisenach oder der Chemiepark in Bitterfeld, ausländische Investoren wie den französischen Konzern Total, Opel oder den US-Riesen Dow Chemical. Doch andere Unternehmen schrumpften stark und viele Standorte entwickelten nicht die erhoffte Strahlkraft und Dynamik. Unternehmenszentralen waren fast durchweg in den alten Ländern angesiedelt, auch wenn die Ursprünge der Konzerne im Osten lagen, wie zum Beispiel beim Kosmetikkonzern Wella. In der Folge wanderten vor allem junge und gut qualifizierte Arbeitnehmer aus dem Osten in den Westen ab. Mit der Sektkellerei Rotkäppchen hat es nur eine bekannte Firma aus DDR-Zeiten geschafft, zur gesamtdeutschen Marke zu werden und sogar Unternehmen aus dem Westen zu übernehmen.

Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung zog das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung eine enttäuschende Zwischenbilanz des Aufbaus Ost. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf erreichte im Jahr 2000 gerade einmal 44,5 Prozent des westdeutschen Niveaus, die Bruttolöhne lagen bei nur 78 Prozent.


„Die Versorgung mit regenerativer Energie ist im Osten und Norden dauerhaft sicherer als im Süden.“
Joachim Ragnitz, Ifo-Institut Dresden

Jedoch entwickelte sich die Wirtschaft der neuen Länder regional sehr unterschiedlich. So gibt es in Regionen wie Mecklenburg oder der Uckermark immer noch kaum Industrieunternehmen. In der Lausitz, wo die Braunkohle über Jahrzehnte für Arbeit und gute Einkommen gesorgt hat, sorgen Kraftwerke und Tagebauen nebst den dazugehörigen Versorgungsbetrieben der Region zwar immer noch für eine passable ökonomische Basis, doch mit dem Aus für die Kohleverstromung dürfte sich das ändern.

Dresden: Anknüpfen an alte Traditionen als Mikroelektronik-Standort

Auf der anderen Seite gelang es beispielsweise Dresden, an alte Traditionen als Standort der Mikroelektronik anzuknüpfen. Großunternehmen wie die Mikrochip-Hersteller Infineon oder AMD siedelten sich Mitte der neunziger Jahre neu an und machten das Bundesland zu einem pulsierenden Wirtschaftszentrum. Das hat auch mit der sächsischen Förderpolitik zu tun: Die Landesregierungen hätten sich auf technologieorientierte Ansiedlungen konzentriert, erläutert Joachim Ragnitz vom Ifo-Institut in Dresden. Es gab nicht nur finanzielle Unterstützung, sondern auch Erleichterungen bei der Bürokratie. So wurden die beiden Chipwerke in nur wenigen Monaten genehmigt.

Sachsen-Anhalt und Brandenburg setzten für Aufschwung und Arbeitsplätze besonders auf erneuerbare Energien. Bekannt wurde vor allem das "Solar Valley" rund um die Chemieregion Bitterfeld-Wolfen mit dem Zugpferd Q-Cells. 2001 wurden hier die ersten Solarzellen hergestellt, rundum siedelten sich weitere Forschungs- und Entwicklungsbetriebe der Photovoltaik an. Das Land förderte die Branche besonders stark und so entstanden nach und nach bis zu 3.500 Arbeitsplätze. Doch als nach 2009 China den Markt für Solarmodule mit Dumpingangeboten überschwemmte, ging es zunächst wieder bergab. Q-Cells ging 2012 pleite. Die Reste wurden vom südkoreanischen Konzern Hanwha übernommen, die Produktion aber 2015 eingestellt. Das Netzwerk von Firmen der Branche existiert aber heute noch. Es wurde 2020 durch die Schweizer Meyer Burger Technologies wiederbelebt - täglich sollen nun 200.000 Solarzellen vom Band laufen. Die Zukunftsaussichten sind glänzend, weil der Ausbau erneuerbarer Energien bundesweit beschleunigt wird und sich Deutschland von China unabhängiger machen will.

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Inzwischen haben sich mit dem Autobauer Tesla in Brandenburg und dem Chiphersteller Intel in Dresden weitere internationale Konzerne im Osten angesiedelt. In Magdeburg plant Intel bereits eine neue Gigafactory. "Intel braucht viel Platz - und den gibt es in Magdeburg", erklärt Ifo-Forscher Ragnitz. Für Tesla sei die die Nähe zu Berlin wichtig, für den chinesischen Batteriezellhersteller CATL die Anbindung an die Autoindustrien in Eisenach, Dresden, Zwickau und Leipzig.

Weil in Brandenburg und Sachsen-Anhalt Ökostrom in beträchtlichen Mengen produziert wird, können die Ost-Länder auch diesen Standortvorteil mittlerweile gut ausspielen, betont Ragnitz. "Die Versorgung mit regenerativer Energie ist im Osten und Norden dauerhaft sicherer als im Süden."


Der Autor arbeitet als freier Journalist in Berlin.