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Foto: picture alliance / SZ Photo / Sebastian Beck
Eigentlich sollten die letzten drei Atomkraftwerke zum Jahresende abgeschaltet werden und der Atomausstieg damit vollzogen sein. Doch nun geht der Betrieb erst einmal weiter.

Atomausstieg in Deutschland : Verlängerung kurz vor Schluss

Die letzten drei deutschen Meiler sollen bis Mitte April weiterlaufen. Der Nutzen des befristeten Streckbetriebs bleibt umstritten.

24.10.2022
2024-01-08T10:03:01.3600Z
7 Min

Der Countdown für die Abschaltung der letzten drei deutschen Atomkraftwerke lief. Seit dem 2011 beschlossenen Atomausstieg war ihr Ende bereits besiegelt: Am 31. Dezember 2022 erlischt gemäß dem Atomgesetz ihre Betriebserlaubnis. Doch der Ukrainekrieg und die darauffolgende Energiekrise haben die Situation gründlich verändert und eine neue Debatte über die Atomkraft ausgelöst. Sollen die Meiler angesichts drohender Gasknappheit und damit auch massiv steigender Strompreise tatsächlich fristgerecht vom Netz gehen oder weiterlaufen? Über diese Frage hatten sich zuletzt nicht nur Regierung und Opposition gestritten, sondern auch die Ampelkoalitionäre untereinander.

Atomgesetz soll geändert werden

Mit seinem Machtwort hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nun rund drei Monate vor dem geplanten Abschalten der Atomkraftwerke jedoch klargestellt: Alle drei AKW sollen bis zum 15. April 2023 weiterlaufen. Laut der nun im Kabinett vereinbarten 19. Atomgesetzänderung kann neben den beiden süddeutschen Atomkraftwerken Isar 2 und Neckarwestheim 2 auch das bis zuletzt umstrittene niedersächsische AKW Emsland weiterbetrieben werden.

Doch so klar die Ansage des Kanzlers, so ungewiss scheint zu sein, welche Wirkung diese Entscheidung tatsächlich auf den Energiemarkt haben wird. Experten beurteilen dies weiterhin unterschiedlich. Gerade auch die Frage, welchen Mehrwert das AKW Emsland für die Energieversorgung hat, ist umstritten. Alle drei AKW tragen aktuell etwa sechs Prozent zur gesamten Stromerzeugung in Deutschland bei.

19. Novelle des Atomgesetzes

  • Fristverlängerung: Mit der Gesetzesänderung sollen die atomrechtlichen Voraussetzungen für den befristeten Weiterbetrieb der Atomkraftwerke Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 bis zum 15. April 2023 geschaffen werden.
  • Streckbetrieb: Die Atomkraftwerke sollen im Streckbetrieb weiterlaufen. Sie werden nicht in Reserve vorgehalten, sondern produzieren weiterhin Strom. Weil sie aber nur mit den vorhandenen Brennstäben arbeiten dürfen, wird die Strommenge geringer sein. Gerechnet wird mit 75 Prozent der Kapazität.


Anders als ursprünglich von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vorgeschlagen, sollen die Meiler nun nicht nur für den Notfall in Reserve vorgehalten werden, sondern im Leistungsbetrieb weiterlaufen. Damit folgt die Bundesregierung den Übertragungsnetzbetreibern, die in ihrem zweiten "Stresstest" empfohlen hatten, alle Kapazitäten zu nutzen.

Da gemäß der geplanten Atomgesetzänderung allerdings kein neuer Brennstoff beschafft werden darf, arbeiten die AKW mit den vorhandenen Brennstäben im gestreckten Betrieb weiter. So lässt sich zwar noch Strom erzeugen, aber weniger als regulär. Ausgegangen wird hier von 75 Prozent der Kapazität, was etwa vier Prozent der gesamten deutschen Stromproduktion entspricht. In ihrer Analyse des Stresstests hatten die Netzbetreiber die gemeinsame Leistung der AKW bis Mitte April mit circa fünf Terrawattstunden beziffert.

Isar 2 muss für Reparaturen für eine Woche stillgelegt werden

Ob diese Leistung in den kommenden Monaten in diesem Umfang zur Verfügung steht, bleibt abzuwarten. Das AKW Isar 2 muss zunächst zur Wartung von Druckhalterventilen für ungefähr eine Woche stillgelegt werden. Im September war eine Ventil-Leckage bekannt geworden. Auch beim AKW Emsland steht laut Ankündigung der Grünen-Fraktionschefin im niedersächsischen Landtag, Julia Willie Hamburg, als erstes eine zwei bis dreiwöchige Sicherheitsprüfung an, um den Bedarf von Nachrüstungen zu klären. Anfang 2023 muss das AKW, so wie auch der Meiler in Neckarwestheim 2, zudem für zwei Wochen heruntergefahren werden, um den Reaktorkern neu zu konfigurieren. Dabei werden die Brennstäbe im Reaktorkern so umsortiert, dass die stärksten in die Mitte kommen, die schwächsten an den Rand.

Ursprünglich wollte Wirtschaftsminister Habeck das AKW Emsland gar nicht weiterbetreiben, weil der Norden immer wieder mit Stromüberschüssen aus der Windkraft zu kämpfen hat. Um Überlastungen der Stromnetze zu vermeiden, müssen die Netzbetreiber dann Anlagen abschalten und die Produktion damit künstlich drosseln. Strommangel herrsche hier nicht, die Leistung des AKW Emsland werde daher nicht dringend gebraucht, meinen auch Experten.

Frische Brennstäbe lassen sich nur mit Vorlauf bestellen

Wirtschaftsverbänden wiederum geht die Entscheidung für den AKW-Weiterbetrieb bis April nicht weit genug. Auch die Union (siehe Interview, Seite 2) dringt auf eine Verlängerung der Laufzeiten bis mindestens Ende 2024. Die Gasmangellage könne im nächsten Winter noch ernster und die Weiternutzung der AKW daher erforderlich sein, so das Argument. Darauf müsse man vorbereitet sein - unter anderem durch die frühzeitige Bestellung von frischen Brennelementen. Tatsächlich lassen sich diese nur mit Vorlauf bestellen: Laut der Aussage der AKW-Betreiber dauert die Lieferung der für jedes AKW speziell angefertigten Elemente bis zu zwölf Monaten. Laut Herstellern wie Framatome oder Westinghouse ließe sich diese Zeit jedoch verkürzen. Der Branchenverband Kerntechnik Deutschland gab auf Anfrage der "Wirtschaftswoche" zuletzt die Lieferfrist "bei bereits getätigten Vorleistungen" mit "sechs oder sieben Monaten" an.

Auswirkung des Weiterbetrieb auf Strompreise ist ungewiss

Noch offen ist auch, wie sich der Streckbetrieb tatsächlich auf die Strompreise auswirken wird. Ein zusätzliches Angebot könne die Preise senken, so die Meinung vieler Experten. Das Münchner Ifo-Institut etwa rechnet mit bis zu neun Prozent niedrigeren Preisen durch den Streckbetrieb der drei AKW bis Mitte April. Laut der Studie eines Forscherteams rund um die Wirtschaftsweise Monika Grimm ist sogar eine Senkung der Strompreise um bis zu 13 Prozent möglich, vorausgesetzt jedoch die Meiler laufen bis 2024.

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Andere Energie-Experten, wie etwa die des Öko-Instituts, sind skeptischer. Die Preisreduktion werde sich in Grenzen halten, prognostizieren sie. Bleibe die Nachfrage hoch, werde das relativ kleine zusätzliche Stromangebot aus den AKW kaum etwas nützen. Grund sei das Strommarkt-System nach der "merit order". Danach orientiert sich der Strompreis immer für alle Kraftwerke an dem Preis für die Brennstoffe des teuersten Kraftwerks, das noch nötig ist, um die Nachfrage zu befriedigen.

Viel diskutiert wurde auch über die Sicherheit der inzwischen 34 Jahre alten Meiler: Denn die letzte "periodische Sicherheitsüberprüfung" fand 2009 statt. 2019 hätte sie erneut erfolgen müssen, doch aufgrund des nahenden Ausstiegstermins wurde darauf verzichtet. Auch ein Grund offenbar, den Weiterbetrieb nur auf dreieinhalb Monate zu befristen: Bei längeren Laufzeiten wären die Sicherheitüberprüfungen nicht mehr aufzuschieben gewesen.