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Foto: picture alliance/dpa/Wolfgang Kumm
US-Kampfflugzeuge vom Typ F 35 sind die erste große Investition aus dem 100-Milliarden-Sondervermögen.

Bundeswehr : Blank an allen Fronten

Die Truppe steht trotz Sondervermögen nicht besser da als zu Beginn des russischen Angriffskrieges.

06.03.2023
2024-01-10T15:15:47.3600Z
6 Min

Als vor gut einem Jahr russische Panzerkolonnen Richtung Kiew rollten, postete Generalleutnant der Inspekteur des Heeres, Alfons Mais: "Ich hätte in meinem 41. Dienstjahr im Frieden nicht geglaubt, noch einen Krieg erleben zu müssen. Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da." Dabei hatte die damalige Bundesregierung schon 2014, als Russland die Krim annektierte und die verdeckte Invasion im Donbass startete, einen sicherheitspolitischen Kurswechsel verkündet und die Landes- und Bündnisverteidigung wieder zur Hauptaufgabe der Bundeswehr erklärt. Auch wollte sie sich dem in der Nato vereinbarten Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Streitkräfte aufzubringen, zumindest annähern.

Tatsächlich wurde der deutsche Verteidigungshaushalt seither langsam, aber stetig erhöht. Doch in den Depots der Bundeswehr war davon noch nicht viel angekommen, als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) drei Tage nach Beginn der russischen Großoffensive in einer Sondersitzung des Bundestages erklärte: "Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents." Der Bund werde ein Sondervermögen von hundert Milliarden Euro für Investitionen und Rüstungsvorhaben einrichten und "von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren". Außerdem habe das Kabinett "entschieden, dass Deutschland der Ukraine Waffen zur Verteidigung des Landes liefern wird". Wobei darauf zu achten sei, dass die Fähigkeit der Bundeswehr zur Landes- und Bündnisverteidigung erhalten bleibe und der Krieg nicht über die Ukraine hinaus eskaliere.


„Die Bundeswehr befindet sich immer noch im freien Fall.“
André Wüstner (Deutscher Bundeswehrverband)

Letztere Einschränkung erhielt für den Bundeskanzler zusätzliches Gewicht durch russische Andeutungen eines möglichen Atomwaffeneinsatzes. Entsprechend vorsichtig - Kritiker sagen: zögerlich - agierte er. Dennoch ist Deutschland inzwischen nach den USA und Großbritannien drittgrößter staatlicher Ausrüster der ukrainischen Streitkräfte. Die von der Bundesregierung regelmäßig veröffentlichte Liste umfasst bereits fast 150 Einzelposten von persönlicher Schutzausrüstung und Sanitätsmaterial bis hin zu Schützen- und Flugabwehrpanzern. Zugesagt ist die Lieferung schwerer Leopard-Kampfpanzer. Der Gesamtwert der erteilten Ausfuhrgenehmigungen beläuft sich auf 2,6 Milliarden Euro.

Allerdings kommt dieses Material zum größten Teil aus Beständen der Bundeswehr, was den Vorsitzenden des Deutschen Bundeswehrverbandes, André Wüstner, zu der Feststellung veranlasste: "Im Vergleich zu vor einem Jahr ist die Befähigung zur Landes- und Bündnisverteidigung schlechter geworden." Denn mit der Ersatzbeschaffung ist die Bundesregierung nur wenig vorangekommen, von einer Aufstockung der Bestände ganz zu schweigen. "Die Bundeswehr ist immer noch im freien Fall", so Wüstners ernüchterte Feststellung.

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Noch vor einigen Wochen waren aus der deutschen Rüstungsindustrie Klagen zu hören, dass sie vergeblich auf Aufträge warte. Man sei bereit, Kapazitäten zu erweitern, brauche aber Planungssicherheit. Umso erfreuter reagierte die Industrie, als der am 19. Januar ins Amt gekommene neue Verteidigungminister Boris Pistorius (SPD) Gesprächsbereitschaft verkündete. Der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, Hans Christoph Atzpodien, erklärte daraufhin, kurzfristige Gespräche "über verlässlichere Nachschub- und Nachbeschaffungswege sind jetzt zwingend notwendig, um sicherzustellen, dass die Bundeswehr trotz der Abgaben von Gerät an die Ukraine einsatzbereit bleibt".

Immerhin, seit Jahresende wurden mehrfach Mittelabflüsse aus dem Sondervermögen parlamentarisch gebilligt und Verträge über 30 Milliarden Euro geschlossen. Größter Posten ist mit knapp zehn Milliarden Euro die Beschaffung von 35 amerikanischen F-35-Kampfflugzeugen. Als Ersatz für die veralteten Tornado-Kampfbomber sollen sie in Deutschland gelagerte US-Atomwaffen ins Zielgebiet transportieren können. Diese Fähigkeit zum Gegenschlag soll dazu beitragen, dass es gar nicht erst zu einem Erstschlag kommt. Eine Stärkung der Bundeswehr ist damit freilich nicht verbunden. 93 Tornados müssen in den nächsten Jahren außer Dienst gestellt werden, neben den 35 F-35 ist bisher aber nur die Beschaffung von 15 Eurofightern für die Elektronische Kampfführung beschlossen. Wie die verbleibende Lücke geschlossen wird, ist offen. Keine Hilfe ist hier das geplante deutsch-französisch-spanische FCAS-Luftkampfsystem - es wird nicht vor 2040 einsatzbereit sein.

Der Bundeswehr fehlt die Munition

Das drängendste Problem aber ist die Munitionsbeschaffung. Eine Aussage von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg Mitte Februar spricht für sich: "Der derzeitige Munitionsverbrauch der Ukraine ist um ein Vielfaches höher als unsere derzeitige Produktion. Wir müssen daher neue Produktionen aufbauen und in unsere Kapazitäten investieren." Immerhin kommt hier etwas in Bewegung. So gab die Firma Rheinmetall im Dezember bekannt, in Deutschland eine Munitionsfabrik für den Flugabwehrpanzer Gepard zu bauen. Dessen Munition wird bisher aus der Schweiz bezogen, deren Verfassung aber die Lieferung in Kriegsgebiete verbietet. Das trifft jetzt die Ukraine, hätte aber im Verteidigungsfall auch Deutschland treffen können. Ab Juli soll die neue Fabrik liefern. Außerdem will Rheinmetall den spanischen Hersteller Expal Systems übernehmen und dessen Munitionsproduktion für Artillerie und Mörser vervielfachen.

Am 20. Februar haben die Außenminister der EU-Staaten auch über einen Vorschlag der EU-Kommission beraten, gemeinsam Munition zu beschaffen, ähnlich wie das während der Corona-Pandemie beim Impfstoffkauf praktiziert wurde. Eine Entscheidung solle innerhalb weniger Wochen fallen, hieß es. Das könnte ein bedeutender Schritt zu der von Deutschland seit Langem gewollten, aber nur langsam voranschreitenden europäisierten Rüstungsbeschaffung sein.


„Das Geld für neue Beschaffungen muss vernünftig angelegt sein.“
Omid Nouripour (Bündnis 90/Die Grünen)

Freilich gibt es hier in der akuten Lage einen Zielkonflikt, den Ulrike Esther Franke vom European Council on Foreign Relations so beschreibt: "Auf der einen Seite soll Europa sicherheitspolitisch stärker und eigenständiger werden. Das würde eine eigenständige europäische Rüstungsindustrie voraussetzen. Auf der anderen Seite rüstet Deutschland nun kräftig auf - mit Bestellungen aus den USA und Israel von der Stange, also marktverfügbarem Material."

Verteidigungsminister Pistorius hat für den nächsten Bundeshaushalt bereits zehn Milliarden Euro mehr gefordert, als in der Finanzplanung vorgesehen. Der Bundesvorsitzende der Grünen, Omid Nouripour, warnte daraufhin, es müsse erst einmal sichergestellt werden, dass das Geld für neue Beschaffungen vernünftig angelegt sei und nicht in "merkwürdigen Projekten versinkt".

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Die Reform des vielkritisierten Beschaffungswesens der Bundeswehr, an der sich schon seine Vorgängerinnen abgearbeitet haben, wird Pistorius also schnell voranbringen müssen, will er die Haushälter im Bundestag von dem Mehrbedarf überzeugen. Eine wichtige Voraussetzung ist mit dem im Sommer verabschiedeten Gesetz zur Beschleunigung von Beschaffungsmaßnahmen für die Bundeswehr (20/2353) bereits geschaffen. Um das erklärte Ziel der Bundesregierung zu erreichen, die Bundeswehr zur schlagkräftigsten und größten Streitkraft in Europa zu machen, können die geforderten zehn Milliarden indes nur ein Anfang sein. Zumal es auch an Personal fehlt. Seit Jahren sind rund 20.000 Dienstposten unbesetzt, und die Bundeswehr soll noch vergrößert werden. Das Sondervermögen von hundert Milliarden wird dafür nicht ausreichen, schon weil Inflation und Zinskosten es von zwei Seiten zusammenschmelzen lassen. Die Wehrbeauftragte des Bundestages Eva Högl (SPD) sprach bereits von 300 Milliarden Euro, die nötig seien, "um in der Bundeswehr signifikant etwas zu ändern".

Doch neben Geld fehlt es Deutschland laut Claudia Major und Christian Mölling von den renommierten Think-Tanks Stiftung Wissenschaft und Politik und Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik vor allem an einem: einer "kohärenten Rüstungspolitik, die Industrie, Bundeswehr und Politik verbindet". In einem gemeinsamen Artikel bemängeln sie, die Umsetzung der Zeitenwende vor allem in der Verteidigungspolitik gehe "anscheinend ohne systematischen Plan voran".