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Krisenjahr 1923 : Am Abgrund

Trotz Hyperinflation und Angriffen von Extremisten meistert die junge Weimarer Republik das Krisenjahr. Gleich drei Neuerscheinungen behandeln das "Jahr am Abgrund".

03.04.2023
2024-01-10T14:02:39.3600Z
5 Min

Über "das Jahr am Abgrund", wie es der renommierte Historiker Volker Ullrich nennt, finden sich gleich drei empfehlenswerte Neuerscheinungen von Mark Jones, Ralf Georg Reuth und Ullrich in den Buchhandlungen. Nach zwei Jahren Pandemie und angesichts des Krieges in der Ukraine kann die umfangreiche Lektüre über die Krisen vor hundert Jahren sogar tröstlich sein: Der Leser erfährt nicht nur Wissenswertes über Ursachen und Verlauf des dramatischen Krisenjahres 1923, sondern auch, wie es gemeistert werden konnte.

Ruhrbesetzung im Januar

Dass auf die Bevölkerung in Deutschland enorme wirtschaftliche Probleme zukommen würden, war absehbar, als französische und belgische Truppen am 11. Januar 1923 das Ruhrgebiet besetzten. Laut Waffenstillstandsabkommen mit den alliierten Siegermächten vom 11. November 1918 hatte sich das Deutsche Reich nach dem Ersten Weltkrieg zur Lieferung von 5.000 Lokomotiven, 150.000 Eisenbahnwaggons und 5.000 Lastkraftwagen verpflichtet. Darüber hinaus forderte der Versailler Vertrag von Deutschland die Zahlung von 20 Milliarden Goldmark in Devisen und Sachwerten bis zum 1. Mai 1921 als Ausgleich für erlittene Verluste und Kriegsschäden. Doch als das Deutsche Reich bei den Reparationen in Rückstand gerät, entsenden Frankreich und Belgien Truppen.

Not macht erfinderisch: Angesichts der Hyperinflation wird 1923 vielerorts wie am Berliner Schlossparktheater (links) in Naturalien bezahlt. Die Mark verliert stündlich an Wert.   Foto: picture-alliance/akg-images

Die ungelöste Reparationsfrage verkomplizierte sich laut Ullrich zusätzlich, weil sich Frankreich, Belgien und Großbritannien während des Krieges hoch bei den USA verschuldet hatten.

Die Besatzer begannen, Kohle und andere Güter mitten im harten Winter abzutransportieren. "Die Besatzungstruppen töteten Zivilisten und vergewaltigten deutsche Frauen und Mädchen", schreibt der irische Historiker Mark Jones in seinem Buch "1923 - Ein deutsches Trauma". Der Experte für die Geschichte der Weimarer Republik war unter anderem als Junior Professor an der Ruhr-Universität Bochum tätig. Jones erinnert an die "Vertreibung" von mehr als 100.000 deutschen Staatsdienern und deren Familien durch die Besatzer. Zudem hatten diese mehr als 300.000 Kinder aus dem Ruhrgebiet ins unbesetzte Deutschland deportiert, damit Paris und Brüssel mit deren Versorgung und schlimmstenfalls ihrem Hungertod nichts zu tun hatten.

Lavieren, um die Reparationen abzumildern

Die Reichsregierung schloss eine militärische Antwort auf den Einmarsch der fast 100.000 Besatzungssoldaten aus, proklamierte stattdessen den "passiven Widerstand" und wies die Zechenbesitzer an, Kohlelieferungen an Frankreich und Belgien einzustellen. Insbesondere Ullrich zeichnet in seinem Standardwerk exakt nach, wie die deutschen Parteien und die Politiker lavierten, um die Reparationen abzumildern. Zudem schildert er die innen- und außenpolitischen Konsequenzen des "passiven Widerstands".

Mark Jones:
1923.
Ein deutsches Trauma.
Propyläen,
Berlin 2022;
384 Seiten, 26,00 €

 

Überfordert trat der parteilose Reichskanzler Wilhelm Cuno am 12. August 1923 zurück. Aber auch der von Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) mit der Regierungsbildung beauftragte Gustav Stresemann von der Deutschen Volkspartei (DVP) konnte die Krise nicht beenden. Vielmehr sei die junge deutsche Demokratie von einem internationalen Staatensystem unter Führung Frankreichs, der USA und des Vereinigten Königreichs im Stich gelassen worden, betont Mark Jones.

Bis heute machen nationalistische Kreise und zahlreiche Autoren allein die horrenden Reparationszahlungen für die galoppierende Inflation und die Krise von 1923 verantwortlich. "Doch die Ursachen lagen tiefer und reichten bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurück", betont Volker Ullrich. Das Deutsche Reich habe den Krieg nicht durch höhere Steuern, sondern überwiegend durch inländische Anleihen finanziert. Überheblich und siegessicher rechnete Berlin damit, dass "man die Rückzahlung den besiegten Gegnern aufbürden könne". Da seit 1916 die Erträge aus den Anleihen zur Deckung der steigenden Kriegskosten nicht mehr ausreichten, betrieb die Reichsbank eine sehr lockere Kreditpolitik. Zwischen dem 1. August 1914 und dem 1. Dezember 1918 erhöhte sich der Geldumlauf von 2,9 auf 18,6 Milliarden Mark. Die Gesamtverschuldung des Reiches belief sich bei Kriegsende auf 156 Milliarden Mark. Allein der Zinsendienst für diese Summe verschlang 1918 rund 90 Prozent der Reichsausgaben.

Wahrung des sozialen Friedens

Jones und Ullrich stimmen darin überein, dass es die demokratischen Regierungen nach 1918 versäumt hatten, einen währungspolitischen Neuanfang einzuleiten. "Die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens war ihnen wichtiger als die Sanierung des Haushalts und die Stabilisierung der Währung", analysiert Ullrich. Um die Kriegsfolgen zu finanzieren, setzten Staat, Unternehmer und Gewerkschaften die inflationäre Politik fort. Millionen demobilisierte Soldaten, Kriegsopfer und Erwerbslose mussten unterstützt werden, außerdem erhielt die Wirtschaft staatliche Subventionen. Im Ergebnis trieb diese Politik die Staatsverschuldung weiter in die Höhe. Andererseits begünstigte die billige Mark den Export, so dass Deutschland in den Jahren 1920 bis 1922 eine Sonderkonjuktur erlebte, die jedoch in einer Hyperinflation endete. Gerade der passive Widerstand, den die Regierung Cuno im Januar 1923 proklamierte hatte, habe der "deutschen Währung den Todesstoß" versetzt, erläutert Ullrich. Stand der Kurs des Dollars Mitte Januar 1923 bei "nur" 12.000 Mark, stieg er am 4. Oktober auf 400 Millionen Mark. "Neben der zentralen Reichsdruckerei in Berlin waren über hundert Druckereien unentwegt damit beschäftigt, den Bedarf an Papiergeld zu befriedigen", notiert Ullrich.

Ralf Georg Reuth:
1923.
Kampf um die Republik.
Piper Verlag,
München 2023;
368 Seiten, 28,00 €

 

Fast alle Schichten der Gesellschaft gehörten zu den Verlierern der Hyperinflation. Es gab aber auch einige wenige, die unangetastet blieben oder sogar zu den Gewinnern gehörten, wie die industriellen Großunternehmer. Gleichzeitig mit der totalen Entwertung des Geldes vollzog sich eine Entwertung bisher gültiger Normen und Werte: An Tugenden wie Sparsamkeit, Rechtschaffenheit und Gemeinsinn orientierten sich immer weniger Menschen.

Bewaffnete Aktionen von Separatisten und anderer Gruppierungen

Die "Große Koalition" unter Führung Stresemanns wollte Deutschland aus der Krise herausführen, aber auch sie musste am 4. Oktober zurücktreten. Das Regierungsbündnis zerbrach an der Forderung der schwerindustriellen Gruppe in der Deutschen Volkspartei, die die Arbeitszeiten verlängern wollte, während die Sozialdemokraten kompromisslos auf dem Achtstundentag bestanden. Zwei Tage später geschah das Wunder von 1923 - die Weimarer Republik fand eine politische Lösung und die Parlamentarier bildeten eine zweite Koalition unter Leitung Stresemanns. Der Reichstag beschloss ein Ermächtigungsgesetz, das der Regierung außerordentliche Vollmachten in der Wirtschafts- und Sozialpolitik einräumte. Am 9. Oktober 1923 überstieg der Dollar die Milliardengrenze, einen Monat später stand er schon bei 2,52 Billionen Mark. Erst die Einführung der "Rentenmark" Ende November beendete das Chaos und bewirkte ein "Wunder", wie der Publizist Sebastian Haffner einst feststellte.

Das verantwortliche Handeln der Politiker im Reichstag vollzog sich unter dem ständigen Druck bewaffneter Aktionen von Seiten verschiedener Separatisten und anderer Gruppierungen, die die Republik zu bekämpfen und zu schwächen suchten. Aus der Sowjetunion wurde versucht, die Kommunisten an die Macht zu bringen. Die dramatischen Ereignisse des Jahres 1923 gipfelten schließlich im "Bürgerbräukeller Putsch" am 8./9. November. Doch die von Adolf Hilter ausgerufene "Nationale Revolution" scheiterte.

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Ralf Georg Reuth betont, nach Hitlers Verurteilung und frühzeitiger Haftentlassung an Weihnachten 1924 habe alles darauf hingedeutet, dass "der Mann mit dem verklemmt-ungelenken Habitus als antisemitischer Sektierer in Vergessenheit geraten" werde. Doch auch wenn die "Zeit der Extremisten" in den Jahren nach 1923 vorerst vorüber gewesen sei, habe sich Deutschland schwergetan, parlamentarisch stabile Verhältnisse zu schaffen. Die Risse in der Gesellschaft wurden von einer aufstrebenden Wirtschaft und einem steigenden Lebensstandard begleitet. In dieser Zeit habe nichts auf einen Hitler, einen Zweiten Weltkrieg oder gar auf den Holocaust hingedeutet. Bei den Reichstagswahlen im Mai 1928 erhielt die NSDAP lediglich 2,6 Prozent. Die antisemitisch-weltverschwörerischen Hasstiraden fanden bei den Deutschen keinen Widerhall, so Reuth. Daran hätte sich auch nichts geändert, wäre es im Herbst 1929 nicht zur Weltwirtschaftskrise gekommen. Sie traf Deutschland wegen seiner vielen Kredite aus den USA besonders hart. Drei Jahre später wurde Hitler Reichskanzler.

Volker Ullrich:
Deutschland 1923.
Das Jahr am Abgrund.
C.H.Beck,
München 2023;
441 Seiten, 28,00 €