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Enquete zum Afghanistan-Einsatz : Deutschland ist am Hindukusch "strategisch gescheitert"

Die Enquete-Kommission wertet 20 Jahre Engagement in Afghanistan aus. Ihre Zwischenbilanz spart nicht mit Kritik.

23.02.2024
2024-04-23T14:24:16.7200Z
5 Min

In einer Woche, in der der Bundestag mit der Operation Aspides einen neuen Bundeswehreinsatz in einer heiklen Weltregion auf den Weg bringen wollte, hat die Enquete-Kommission zum Afghanistan-Einsatz ihren Zwischenbericht vorgelegt. Keinesfalls eine Blaupause, aber wichtige Erkenntnisse für Missionen in Krisenregionen liefert der Afghanistan-Einsatz von 2001 bis 2021. Die vom Bundestag eingerichtete "Enquete-Kommission Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands" hat sich vorgenommen, die Afghanistan-Erfahrungen, versehen mit Handlungsempfehlungen, für kommende Entscheidungsträger nutzbar zu machen.

Positive Auswirkungen des Engagements mussten am Ende aufgegeben werden

Zur Halbzeit ihrer Arbeit hat sie nun eine Zwischenbilanz vorgelegt - und darin mit teils deutlicher Kritik nicht gespart: Positive Auswirkungen des Afghanistan-Engagements, etwa auf die Infrastruktur, mussten am Ende aufgegeben werden. Der ambitionierte Staatsaufbau wurde ohne kohärente Strategie verfolgt. Und der kulturelle Kontext Afghanistans erfuhr keine ausreichende Würdigung, so das Zwischenfazit der Enquete-Kommission.

Foto: picture-alliance/JOKER/TimoVog/est&ost

Ein Panzerkonvoi der Bundeswehr patrouilliert im Januar 2010 in der Umgebung und im Zentrum der nordafghanischen Stadt Masar-e Scharif.

Auslöser für den Afghanistan-Einsatz waren die Terroranschläge vom 11. September 2001 auf die USA. Eine breite internationale Koalition scharte sich damals rasch in Solidarität um die angegriffene Führungsmacht des Westens. Am 22. Dezember 2001 stimmte der Bundestag für die Entsendung deutscher Kräfte in das Land am Hindukusch. Es folgte einer der komplexesten und längsten Kampf- und Stabilisierungseinsätze der Staatengemeinschaft, dort, wo man die Hintermänner und den Nährboden des Terrors vermutete. Im kollektiven Gedächtnis blieben von diesem zunächst als Antiterroreinsatz begonnenen und bald mit den Ambitionen des Staatsaufbaus versehenen Engagement vor allem die Bilder der Anschläge in New York sowie des chaotischen Abzugs aus Kabul zwanzig Jahre später. Das Mandat zur Beteiligung an den Missionen ISAF und Resolute Support wurde Jahr für Jahr, insgesamt zwanzig Mal, vom Bundestag verlängert. Die Entscheidung der USA zum Rückzug bedeutete 2021 das Ende der Mission.

Eine Dokumentation der Defizite

Mit den Umständen und Verantwortlichkeiten des Abzugs befasst sich im Bundestag ein Untersuchungsausschuss. Die historische Bedeutung des Afghanistan-Einsatzes als Hort sicherheitspolitischer Erfahrungen wird im Parlament gespiegelt durch die Enquete-Kommission, die das Engagement in seiner gesamten Länge und Komplexität, mit seinen positiven Wirkungen und in seinem Scheitern, analysieren und Lehren daraus für die Außen- und Sicherheitspolitik der Zukunft ziehen soll. Nach zahlreichen Sitzungen, 34 Anhörungen und intensivem Aktenstudium hat das Gremium aus zwölf Abgeordneten und zwölf Sachverständigen unter dem Vorsitz von Michael Müller (SPD) nun Erreichtes und Defizite des deutschen Einsatzes dokumentiert.

Dazu teilte man sich auf in drei Projektgruppen, zu den Aspekten Sicherheit und Stabilisierung, zivilem Aufbau und Friedensförderung sowie Staats- und Regierungsaufbau. Zudem wurden externe Sachverständige befragt, damalige Entscheidungsträger und Verantwortliche, darunter der frühere Außenminister Joschka Fischer (Grüne), Einsatzkräfte, Zeitzeugen und Wissenschaftler aus sämtlichen Handlungsfeldern, von den Streitkräften über die Diplomatie bis zur Polizei- und Entwicklungszusammenarbeit, aus dem In- und Ausland. Die Kommission stellte Fragen zum strategischen Ansatz der Bundesregierung und zur Kooperation der Ministerien, zu Lagebild und Informationsflüssen ebenso wie zur Tauglichkeit von Instrumenten und Material sowie zur Abstimmung mit den internationalen Partnern und zur Einbeziehung der Ortskräfte.


„Deutschland wird in Zukunft stärker gefordert sein in unterschiedlichen Krisenherden.“
Michael Müller, Vorsitzender Enquete-Kommission

Es war nicht alles schlecht am Afghanistan-Einsatz. Diese Erkenntnis schien in den öffentlichen Anhörungen immer wieder durch, der Zwischenbericht bescheinigt Deutschland Teilerfolge: "Deutschland hat sich als verlässlicher Verbündeter gezeigt." Militärische wie zivile Einsatzkräfte hätten sich durch ein hohes Maß an Professionalität ausgezeichnet. Zudem habe es während der Anwesenheit ausländischer Soldaten und Entwicklungshelfer in Afghanistan bedeutende Verbesserungen der Lebensverhältnisse, insbesondere für Frauen und Mädchen, sowie spürbare Verbesserungen in Bereichen der Infrastruktur gegeben.

Es ist nicht gelungen, die Ziele dauerhaft abzusichern

Dennoch sei der Afghanistan-Einsatz letztlich "mit dem Abzug und der Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 strategisch gescheitert, Ergebnisse und gesteckte Ziele dauerhaft abzusichern." Neben der militärischen Aufgabe der Stabilisierung und dem Kampf gegen den Terrorismus habe Deutschland das Ziel eines Staatsaufbaus mit rechtsstaatlichen Institutionen, "selbsttragender Sicherheit" sowie einer "weitreichenden gesellschaftlichen Transformation" mit "wirtschaftlichen und sozialen Zukunftsperspektiven verfolgt," heißt es im Zwischenbericht. Um dieses ambitionierte Ziel zu verwirklichen habe allerdings eine realistische und kohärente Strategie gefehlt, hält der Bericht weiter fest. Zudem seien die zum Einsatz gebrachten Fähigkeiten und Ressourcen verglichen mit der ambitionierten Zielsetzung zu gering gewesen, sowohl auf militärischer Seite als auch beim Zivilpersonal.

Die Arbeit der Enquete hat weitere Mängel zutage gefördert und auch bekannte Defizite bestätigt, die der Bericht nun aufzeigt. Dazu gehört, dass es an einem realistischen Gesamtbild der Lage, einer laufenden Bestandsaufnahme sowie einer optimalen Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Ressorts gefehlt habe. Die am Einsatz beteiligten Akteure hätten außerdem kein ausreichendes Verständnis für Kultur und Geschichte Afghanistans aufgebracht. Die lokalen Machtverhältnisse wurden daher falsch eingeschätzt, der steigende Einfluss der Taliban wurde unterschätzt.

Vom Balkan über den Nahen Osten bis Afrika: Die Liste anspruchsvoller Auslandsmissionen ist nach dem Ende des Kalten Krieges immer länger geworden. "Deutschland wird in Zukunft stärker gefordert sein in unterschiedlichen Krisenherden. Wie wir da besser werden können, auch dazu dient die Arbeit der Enquete", sagt Michael Müller. Einsätze wie in Mali oder Niger zeigten zudem, "dass unsere Werkzeuge angepasst werden müssen, um in Zukunft unseren Beitrag für eine friedlichere und prosperierende Welt leisten zu können", so der Vorsitzende im Vorwort des Zwischenberichts.

Das militärische und zivile Zusammenspiel soll optimiert werden

Der sogenannte vernetzte Ansatz gilt mittlerweile als Grundprinzip deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Er meint die Verzahnung militärischer, polizeilicher, diplomatischer, entwicklungspolitischer, humanitärer und ökonomischer Instrumente im Rahmen von internationalen Krisenmanagement- und Friedensmissionen. Um dieses Zusammenspiel von militärischen und zivilen Maßnahmen im internationalen Krisenmanagement zu optimieren werden die Afghanistan-Erfahrungen herangezogen.

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Im Sommer 2022 hatte der Bundestag auf Antrag der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP die Enquete-Kommission eingesetzt. Im September 2022 hatte sich das Gremium konstituiert und Michael Müller, früherer Regierender Bürgermeister von Berlin, zum Vorsitzenden sowie Serap Güler (CDU) zu seiner Stellvertreterin gewählt. Bis 2025 will die Kommission in einer zweiten Phase, abgeleitet aus den im Zwischenbericht zusammengeführten Erfahrungen aus dem Afghanistan-Einsatz, konkrete Handlungsempfehlungen für das zukünftige Engagement Deutschlands in internationalen Krisenregionen erarbeiten und in einem Abschlussbericht vorlegen.