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Systemkonkurrenz zwischen China und den USA : "Das Exportpotenzial des politischen Kapitalismus ist begrenzt"

Der frühere Weltbank-Ökonom Branko Milanovic im Interview über Kapitalismus in den USA und in China - und warum das chinesische Modell nur schwer zu kopieren ist.

30.12.2023
2024-02-23T09:44:25.3600Z
5 Min

Herr Milanovic, Sie differenzieren in Ihrem Buch "Kapitalismus global" zwischen zwei Typen des Kapitalismus: dem westlich-amerikanischen und dem chinesischen. Worin unterscheiden sich die beiden Spielarten?

Branko Milanovic: Der grundsätzliche Unterschied liegt in der Rolle des Staates. Das chinesische System ist autoritär. Sein Kapitalismus ist nicht liberal, sondern ein politisch gelenkter Kapitalismus. Die Autonomie des Staates ist viel größer als in demokratischen Systemen. Es gibt keine Rechtsstaatlichkeit, denn sie würde die Macht der staatlichen Verwaltung einschränken. Diese Rechtsunsicherheit schadet zwar der Wirtschaft, weil sie zu Korruption führt. Trotzdem hat China eine sehr leistungsfähige Form des Kapitalismus entwickelt.

Seit den achtziger Jahren beeindruckt China mit seinem beispiellosen Wirtschaftsaufschwung...

Branko Milanovic: ... ja, tatsächlich hat es noch nie zuvor in der Moderne ein Land geschafft, über fast 50 Jahre hinweg Wirtschaftsleistung und Lebensstandard zu steigern. Darauf basiert die Legitimität der chinesischen Führung. Anders als in liberalen Demokratien, in denen die Legitimität der Regierung im Kern auf freien und fairen Wahlen beruht, legitimiert sich die Führung in China über Ergebnisse. Solange sie bestimmte "Güter" liefert, wird sie akzeptiert. Für ihr wirtschaftliches Wohlergehen verzichten die Bürger dagegen auf politische Freiheit.

Foto: © picture alliance / Jane Barlow
Branko Milanovic
war zwanzig Jahre Ökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank. Sein Forschungsschwerpunkt ist die soziale Ungleichheit. Heute lehrt er an der University of New York und ist unter anderem Autor des 2019 erschienenen Buches "Kapitalismus global. Über die Zukunft des Systems, das die Welt beherrscht". 
Foto: © picture alliance / Jane Barlow

Beim Ausbau der Infrastruktur agiert China deutlich schneller und effizienter als liberale Demokratien, auch bei der Bekämpfung von Corona war die Volksrepublik zunächst erfolgreicher - ein Vorteil des politischen Kapitalismus?

Branko Milanovic: In Autokratien ist die Staatsgewalt konzentriert. In Demokratien müssen Entscheidungen dagegen ausgehandelt werden. Rechtliche Hindernisse, die Infrastrukturprojekte wie den Bau von Bahnstrecken in demokratischen Ländern erheblich verzögern können, kann der chinesische Staat leichter aus dem Weg räumen. Auch Wahlen muss die politische Führung nicht fürchten. Unter solchen Bedingungen fällt es leichter, Ziele wie Effizienz und Wirtschaftswachstum zu verfolgen.

Wird China seine wirtschaftliche Entwicklung fortsetzen können? Als Vorzug des liberalen Kapitalismus gilt doch, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Innovationen begünstigen.

Branko Milanovic: Es gab stets Stimmen, die China zur Innovation nicht fähig hielten, weil es westliche Technologien nur kopiere. Trotzdem: China hat in den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren bewiesen, dass auch sehr autoritäre Systeme Innovationsführer sein können.

Immobilienkrise, Jugendarbeitslosigkeit, hohe Staatsverschuldung - der chinesische Kapitalismus scheint mit ähnlichen Problemen zu kämpfen wie der westliche Kapitalismus. Nähern sich die Modelle an?

Branko Milanovic: Nein. Trotz ähnlicher Entwicklungen wird es auch in Zukunft unterschiedliche kapitalistische Systeme geben. Die Probleme, mit denen China konfrontiert ist, werden das Wachstum zwar bremsen, aber das chinesische Wirtschaftswunder nicht beenden.

Und wie gefährlich für Chinas Erfolg ist die verbreitete Korruption, die Sie als Wesenszug des politischen Kapitalismus bezeichnen?

Branko Milanovic: Korruption ist eine echte Gefahr. Regelmäßig ruft das Regime deshalb Anti-Korruptions-Kampagnen aus, wie zuletzt etwa im Gesundheitswesen, um sie im Griff zu behalten. Doch ganz wird die Korruption nie verschwinden, denn sie ist zwangsläufig in einem System, das auf Willkür basiert. Was es zusätzlich gefährlich für die Kommunistische Partei macht: Korruption verstärkt die Ungleichheit. Diese ist ohnehin schon hoch, höher als in den USA, aber je mehr Neureiche mit ihrem Vermögen protzen, desto mehr droht die Legitimität der chinesischen Führung Schaden zu nehmen.


„Chinas Öffnungspolitik ab Ende der siebziger Jahre wurde von den USA unterstützt, um das Land als Verbündeten gegen die Sowjetunion zu gewinnen.“
Branko Milanovic

Wachsende Ungleichheit ist auch für Demokratien eine Bedrohung. In Ihrem Buch beschreiben Sie strukturelle Veränderungen des liberalen Kapitalismus, die die Konzentration von Reichtum begünstigen - wie zunehmende Homogamie.

Branko Milanovic: Männer und Frauen haben heute immer öfter Lebenspartner, die dasselbe Bildungs- und Einkommensniveau haben wie sie selbst. Die Gründe dafür sind durchaus positiv: Erwerbsquote und Ausbildungsniveau von Frauen sind heute viel höher, das soziale Gefälle innerhalb der Beziehungen verschwindet. Die Kehrseite ist jedoch, dass sich Vermögen und Bildung in denselben Haushalten konzentrieren. Einen ähnlichen Effekt hat auch ein zweites systemi-sches Merkmal des heutigen Kapitalismus: Immer häufiger verfügen Menschen mit hohem Lohn auch über ein großes Vermögen und erzielen hohe Kapitaleinkünfte.

In den USA verfügt das einkommensstärkste eine Prozent der Haushalte über mehr Vermögen als alle Normalverdiener zusammen. Welche Folgen hat das?

Branko Milanovic: Die USA steuern auf eine Plutokratie zu, in der sich eine Oberschicht verfestigt. Ungleichheit bedeutet ja nicht nur, dass ein kleiner Teil der Bevölkerung sehr viel Geld hat, sondern auch, dass eine reiche Elite durch politische Einflussnahme ihre Privilegien auf ihre Kinder und Kindeskinder ausdehnt. Viel besorgniserregender als die Konzentration von Vermögen ist daher die Konzentration von Parteispenden in den USA. Das Versprechen von Chancengleichheit und demokratischer Entscheidungsfindung wird damit hinfällig. Das Fundament des politischen Systems ist bedroht.

US-Präsident Biden setzt verstärkt auf Sozialtransfers und knüpft staatliche Subventionen wie den Inflation Reduction Act an soziale Auflagen. Sehen Sie darin, wie manche Beobachter, den Versuch, Ungleichheit zu reduzieren und Populisten den Boden zu entziehen?

Branko Milanovic: Biden scheint entschlossen, wirtschaftspolitische Maßnahmen mit sozialpolitischen Zielen zu verbinden. Die Gründe dafür sind allerdings nicht innenpolitischer Natur. Es ist der Wettbewerb mit China, der Biden veranlasst, amerikanische Arbeitsplätze zu schützen und den Export von US-Technologie nach China zu unterbinden. Seine Sozialpolitik ist mit einer Art geopolitischer Vision verbunden.

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China und die USA sehen sich als Rivalen. Das war nicht immer so...

Branko Milanovic: Nein, normale Beziehungen zu den USA waren eine Voraussetzung für Chinas Exportwachstum und ausländische Investitionen. Chinas Öffnungspolitik ab Ende der siebziger Jahre wurde von den USA unterstützt, um das Land als Verbündeten gegen die Sowjetunion zu gewinnen. Seit die USA China als potenzielle Supermacht sehen, hat sich das Verhältnis geändert. Trump war es, der mit Strafzöllen auf chinesische Importe einen Handelsstreit vom Zaun gebrochen hat.

Der Systemwettbewerb beschränkt sich nicht mehr auf den Handelsstreit. Es ist ein ideologischer Konflikt, in dem China versucht, sein Modell exportieren.

Branko Milanovic: Die Pandemie hat den Konflikt in beispielloser Klarheit zutage gefördert. Die aggressiven Äußerungen chinesischer Diplomaten in sozialen Medien waren etwas Neues, ebenso die Infragestellung der Grundlagen des chinesischen Systems durch den Westen. Die Verbreitung der Werte des liberalen Kapitalismus ist eine fundamentale Herausforderung, die das Regime in Peking nicht ignorieren kann. China muss sein Modell exportieren und zeigen, dass es auch anderswo funktioniert, um den westlichen Einfluss zurückzudrängen.

Dass China, etwa mit der Seidenstraßen-Initiative, heute eine aktivere außenpolitische Rolle spielt als früher, ist also eine Verteidigungsreaktion?

Branko Milanovic: Das Geltungsbedürfnis Chinas ist eine Präventivmaßnahme, die eher einer potenziellen Schwäche als chinesischen Expansionsbestrebungen entspringt.

Und wie groß ist das Exportpotenzial des politischen Kapitalismus?

Branko Milanovic: Der politische Kapitalismus mag attraktiv sein. Doch anders als das liberale Modell lässt er sich nicht so einfach implementieren. Das gilt gerade für den chinesischen Kapitalismus, der historisch bedingt auf einem regional dezentralisierten Autoritarismus fußt. Das Exportpotenzial ist deshalb begrenzt. Das System kann kopiert werden, ob auch wirtschaftlich erfolgreich, ist allerdings fraglich.