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Foto: picture-alliance/AA/ABACA
In den Goldminen Kenias arbeiten junge Männer für einen Hungerlohn und teils unter extrem gefährlichen Bedingungen. Oft haben sie keine Alternative.

Kapitalismus in Afrika : Armut und Ausbeutung in Afrika

Das Leben in vielen afrikanischen Staaten ist von Armut und Ausbeutung geprägt. Beispiele aus Kenia und Südafrika.

21.12.2023
2024-01-24T17:20:56.3600Z
6 Min

In etwa 20 Meter Tiefe zwängt sich John Serama durch eine leicht abschüssige Röhre im Erdreich. Hier unten ist es heiß und dunkel, nur Seramas Taschenlampe gibt etwas Licht. Der 30-jährige Kenianer ist auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz: dem Fels am Ende des Stollens. Serama arbeitet im Goldgürtel im Südwesten Kenias, in der Region Migori. Hier wird überall gebuddelt, geschürft und gewaschen - ohne dass jemand den Bergbau reguliert. Serama hat eine Alkoholfahne. Vor dem Abstieg in den Stollen habe er sich etwas Changaa genehmigt, gibt er auf Nachfrage zu: den illegal gebrannten, hochprozentigen Alkohol, der kaum etwas kostet, aber verboten ist, weil er schwere gesundheitliche Schäden hervorrufen kann.

Was bedeutet Ausbeutung?

Wenn Arbeiter einen unzureichenden Lohn erhalten, spricht man von Ausbeutung. Auch wenn Arbeiter mehr und länger arbeiten müssen als vereinbart, ohne dass dafür Geld bezahlt wird, ist das Ausbeutung. In den Schriften von Karl Marx (1818-1883) spielt der Begriff eine zentrale Rolle.



Serama erzählt, dass er jedes Mal etwas trinkt, bevor er in die Goldgrube steigt. "Aus Angst", wie der Familienvater zugibt. Sie ist verständlich: In seinem ersten Jahr als Schürfer hat er bei Unfällen in Minen bereits fünf Menschen sterben sehen. Dass er selbst davonkam, ist reines Glück. "Beim ersten Unfall stürzte der Stollen ein", erzählt er im Licht seiner Taschenlampe. "Wir waren mit zehn Leuten unten. Zwei waren auf der Stelle tot, einer starb auf dem Weg ins Krankenhaus." Bei einem weiteren Unfall habe es ein Problem mit der Verkabelung der Wasserpumpe gegeben, die sie unter Tage nutzen. "Das Wasser wurde elektrisch geladen, zwei Menschen waren sofort tot."

In beiden Fällen gab es kein Unternehmen, das wegen der Unglücke hätte belangt werden konnte, denn John Serama sowie seine Kolleginnen und Kollegen arbeiten im so genannten Klein-Bergbau auf eigene Rechnung. Sie haben keinen Arbeitsvertag und die meisten auch keine Krankenversicherung. Von Lohnfortzahlung im Fall einer Verletzung oder Krankheit ganz zu schweigen, es gibt ja keinen Arbeitgeber. Wer in solchen "handwerklichen" Minen in die Tiefe klettert, tut das ohne jede soziale oder rechtliche Absicherung.

Die meisten Menschen arbeiten in der Schattenwirtschaft

Auf dem afrikanischen Kontinent arbeitet die Mehrheit der Menschen im so genannten "informellen" Sektor, also ohne offiziellen Arbeitsvertrag. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO sind mehr als 80 Prozent der Menschen in Afrika in dieser "Schattenwirtschaft" beschäftigt: in der Landwirtschaft, als Kfz-Mechaniker oder Händler in Städten sowie in etlichen weiteren Branchen. Das gilt auch für Kenia: 83 Prozent der Arbeitenden verdienen ihr Geld im informellen Sektor. Der Vorteil: Sie haben ein Einkommen. Das Angebot an "richtigen" Jobs deckt den Bedarf bei weitem nicht ab. Jährlich kommen 800.000 junge Menschen neu auf den Arbeitsmarkt, die Zahl neuer Stellen liegt bei einem Bruchteil davon. Die Nachteile der informellen Jobs liegen auf der Hand: Die Beschäftigten haben kein Arbeitsrechte, keine geregelten Arbeitszeiten, Umsätze und Gewinne sind unsicher, es gibt kaum Sicherheiten, Rücklagen oder Geld für weiterführende Investitionen, keinen Anspruch auf staatliche Leistungen wie eine Altersversorgung.

An den Mahlzeiten wird gespart

Dabei gibt es auch im informellen Sektor abhängige Beschäftigungsverhältnisse - aber eben ohne verbriefte Rechte. Nach Angaben der ILO liegen in Kenia die Löhne im informellen Sektor deutlich unter dem gesetzlichen Mindestlohn.

Einkommen in Kenia und Südafrika

Kenias monatliches Durchschnittseinkommen 2021: 6.879 Kenia Schilling (KES), umgerechnet rund 54 Euro.

Südafrikas monatliches Durchschnittseinkommen 2022: 26.032 Südafrikanische Rand (ZAR), umgerechnet rund 1.435 Euro.



Bei den offiziellen Arbeitsverträgen ist die Situation allerdings nicht viel besser. Nach Angaben des "Kenya Institute for Public Policy Research and Analysis" (KIPPRA) verdienen 77 Prozent der Arbeitnehmer weniger als das, was gesetzlich als Minimum vorgeschrieben ist - wobei schon der Mindestlohn nur die Hälfte der tatsächlichen Lebenshaltungskosten abdeckt. Das heißt: Ob offiziell oder inoffiziell beschäftigt, zum Leben reicht das monatliche Einkommen bei den meisten Kenianerinnen und Kenianern nicht. Sie sparen dann zwangsläufig an der Zahl der täglichen Mahlzeiten, der Kleidung, der Qualität des Wohnraums, dem Gang zum Arzt.

Kenia wird von schweren Krisen erschüttert

Angesichts der Zahlen wird es besser verständlich, warum der kenianische Goldgräber Serama ein so hohes Risiko eingeht - obwohl er ursprünglich von einem "normalen", gesicherten Leben geträumt hat. Er studierte Kriminologie und Strafjustiz, machte seinen Abschluss. Anschließend fand er trotz langer Suche keinen Job. In Kenia sei es üblich, dass Bewerber Schmiergelder zahlen, um eine Stelle zu kriegen, erzählt er. Geld, das Serama nicht hatte. Um etwas zu verdienen, arbeitete er als Hilfslehrer an einem Gymnasium, für umgerechnet 25 Euro im Monat. Als Goldgräber verdient er im Durchschnitt monatlich 250 Euro - davon kann er seine Familie so einigermaßen ernähren.

Allerdings wird das auch für ihn immer schwieriger. Denn in Kenia hat sich die wirtschaftliche Lage in den vergangenen Monaten massiv verschlechtert. Zu den Gründen gehört eine Abfolge schwerer Krisen seit 2019: erst eine schwere Heuschreckenplage, dann die Corona-Pandemie, anschließend die schlimmste Dürre seit vier Jahrzehnten und schließlich der Krieg in der Ukraine, der global zu stark steigenden Getreide- und Treibstoffpreisen führte.


„Es ist einfach nur Folter: Er will mit dir schlafen, erst dann bekommst du einen Job.“
Arbeiterin in Kenia

Die Inflationsrate in Kenia ist entsprechend hoch, im März 2023 lag sie nach Zahlen der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung bei 8,59 Prozent. Der kenianische Schilling verliert gegen den US-Dollar und den Euro schnell an Wert, was die Importe empfindlich verteuert. Aufgrund der hohen Staatsverschuldung versucht Präsident William Ruto, die staatlichen Einnahmen durch immer neue Abgaben zu erhöhen und gleichzeitig die Ausgaben durch weniger Subventionen für Güter des täglichen Verbrauchs zu senken. Nun wissen viele Menschen kaum noch, wie sie über die Runden kommen sollen.

Job gegen Sex

Das verschlechtert ihre Verhandlungsposition auch dort, wo sie offizielle Arbeitsverträge bei internationalen Unternehmen haben. Werden ihre Rechte verletzt oder ihre Verträge nicht eingehalten, nehmen viele Arbeiter das schweigend hin, weil sie fürchten, ihr Einkommen sonst zu verlieren. Rechercheure der britischen BBC brachten Beispiele auf kenianischen Teeplantagen ans Licht, die britischen Unternehmen gehören.

Die BBC sprach nach eigenen Angaben mit 70 Arbeiterinnen. Demnach zwingen Vorgesetzte Arbeiterinnen immer wieder zum Sex. Einige Frauen berichteten dem Sender auch von Drohungen mit ihrer Entlassung. Eine der Arbeiterinnen sagte der BBC: "Ich darf meinen Job nicht verlieren, denn ich habe Kinder." Eine andere berichtete von Erpressung im Bewerbungsgespräch: "Es ist einfach nur Folter: Er will mit dir schlafen, erst dann bekommst du einen Job." Dass sie wirtschaftlich immer stärker unter Druck stehen, gilt auch für die Bevölkerung in vielen anderen Ländern des Kontinents, unabhängig davon, ob sie auf Plantagen, in Industriebetrieben oder im Dienstleistungssektor arbeiten. Der Anteil des formellen Sektors an der Wirtschaftsleistung ist unterschiedlich groß, am größten im Süden des Kontinents.

In Südafrika wächst die Kluft zwischen Arm und Reich

Südafrika ist ein ressourcenreiches Schwellenland und der am weitesten entwickelte Industriestandort auf dem Kontinent. Das Land ist der größte Automobilbauer Afrikas, der Sektor schafft rund 112.000 Arbeitsplätze, darunter bei der Volkswagen Group South Africa (VWSA). Mit mehr als 3.500 Beschäftigten im Werk Kariega, einer Industriestadt rund 1.000 Kilometer südlich von Johannesburg, ist die VWSA ein wichtiger Arbeitgeber. Auch der industrielle Bergbau spielt in Südafrika eine tragende Rolle, Hunderttausende sind in dem Sektor beschäftigt. Die Chemie, vor allem die Petrochemie, ist ebenfalls von Bedeutung. Außerdem gibt es einen kleinen Maschinenbausektor. Mit dem vergleichsweise hohen Grad der Industrialisierung spielt Südafrika auf dem Kontinent eine Sonderrolle. Allerdings hat sich auch in Südafrika die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung in den vergangenen Monaten deutlich verschlechtert. Die Kluft zwischen Arm und Reich, die dort ohnehin ausgeprägt ist, hat sich weiter vergrößert. Das wirtschaftliche Schwergewicht des Kontinents befindet sich seit längerem in einer umfassenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Krise, verschärft durch die globalen Verwerfungen wie die Corona-Pandemie sowie die Folgen des Kriegs in der Ukraine.

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In Südafrika haben nach Schätzungen bis zu zwei Drittel der Arbeitskräfte einen Arbeitsvertrag - das dürfte die höchste Rate auf dem Kontinent sein, jedenfalls südlich der Sahara. Die Gewerkschaften haben eine vergleichsweise starke Stellung, es gibt ein Arbeitsrecht, das die grundlegenden Beschäftigungsbedingungen regelt, und einen Mindestlohn gibt es auch.

Die wirtschaftliche Realität ist für die Mehrheit trotzdem auch hier eine andere: Die Arbeitslosigkeit ist seit Jahren eine der höchsten der Welt, 2022 lag sie bei fast 33 Prozent. Unter Jugendlichen ist die Erwerbslosigkeit mit 64 Prozent besonders hoch, und jede zweite Frau findet keinen Job. Leiharbeit ist eine weit verbreitete Praxis, und vor allem viele Arbeitsmigranten verdienen ihr Geld unter besonders prekären Bedingungen - am Ende jedes Monats haben sie deutlich weniger als gesetzlich vorgeschrieben. Für viele ist der einzige Ausweg, in den Elendsvierteln der Städte zu wohnen, an Mahlzeiten zu sparen und im Krankheitsfall auf eine Behandlung zu verzichten.

Die Autorin ist freie Afrika-Korrespondentin.