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Einwanderung in Kanada : Nach Punkten gewichtet

Alles anders jenseits des Atlantiks? Kanada braucht dringend mehr Zuwanderer und hilft Ausländern deshalb großzüzig bei der Integration.

14.08.2023
2024-02-26T14:45:03.3600Z
5 Min

Am Abend des 26. Juni 2023 stand Olivia Chow vor jubelnden Anhängern. "Toronto ist ein Ort der Hoffnung, wo ein Immigrantenkind als Eure gewählte Bürgermeisterin vor Euch stehen kann", rief sie. Bei der Bürgermeisterwahl hatte eine Mehrheit für die 66-jährige Sozialdemokratin gestimmt, die 1970 am Alter von dreizehn Jahren mit ihren Eltern von Hongkong nach Toronto emigrierte. Die rund 2,5 Millionen Einwohner zählende Metropole am Ontario-See gilt als die multikulturellste Stadt Kanadas. Rund 160 verschiedene Kulturen leben hier. Laut einer Volkszählung von 2021 wurde nahezu die Hälfte der Bevölkerung außerhalb des Landes geboren. Mehr als 1,2 Millionen Torontonians sind Immigranten. Das ist selbst für das Einwanderungsland Kanada bemerkenswert. Landesweit sind 23 Prozent der Bevölkerung eingewandert.

Migration als Wachstumsfaktor

Im Juni erreichte das Land einen "historischen Meilenstein": Wie die Statistikbehörde Statistics Canada meldete, leben in Kanada 40 Millionen Menschen. 2022 wuchs die Bevölkerung erstmals um mehr als eine Million Menschen, 95 Prozent des Wachstums beruht auf Migration. Kanada hat die Zahl der Immigranten, die als "permanent residents" ein Bleiberecht haben, deutlich erhöht. Der Einwanderungsplan sieht vor, dass in diesem Jahr 465.000 "permanent residents" - einschließlich Flüchtlinge - ins Land kommen sollen, 485.000 in 2024 und eine halbe Million in 2025. Hinzu kommt etwa die gleiche Zahl an Zuwanderern mit befristeter Aufenthaltserlaubnis und internationalen Studenten.

Foto: © picture-alliance/NurPhoto/Creative Touch Imaging Ltd/dpa/Britta Pedersen

Einwanderer auf einer Willkommensveranstaltung in Toronto (Bild links). Wer kommen und bleiben darf, wird nach einem Punktesystem entschieden.

Einwanderung prägt die Geschichte Kanadas. Über Jahrzehnte kamen Neubürger meist aus Europa. Bis in die 1960er Jahre erschwerten diskriminierende Gesetze die Immigration aus anderen Kontinenten. 1967 wurde ein Punktesystem eingeführt mit beruflicher Qualifikation, Bildungsniveau und sprachlichen Fähigkeiten als Kriterien. "Kanada braucht mehr Menschen, aus ökonomischen, aber auch aus demografischen Gründen", sagt Sean Fraser, bis zur Kabinettsumbildung Ende Juli Minister für Immigration, Flüchtlinge und Staatsbürgerschaft.

Anfang des Jahres zeigten die Arbeitsmarktstatistiken nahezu eine Million offene Stellen. Ohne Immigration könnte Kanada seinen Bürgern nicht die Leistungen bieten, die heute noch möglich sind. Kamen vor 50 Jahren sieben Erwerbstätige auf einen Menschen im Ruhestand, so sind es heute noch drei. Das Punktesystem wurde mehrmals geändert. Die gravierendste Änderung war 2015 die Einführung des "Express Entry"-Systems. Nun können potenzielle Einwanderer über die Website des Ministeriums ein Profil erstellen mit Angaben über ihre Qualifikation, Schulbildung, Sprachkenntnisse und ihr Alter. Aufgrund dieser Informationen werden maximal 1.200 Punkte vergeben. So erhalten Interessenten zwischen 20 und 29 Jahren hundert Punkte, ein 39-jähriger dagegen nur 50 Punkte. Kandidaten mit hohen Punktzahlen werden aufgefordert, sich für eines der Einwanderungsprogramme zu bewerben.

Punktesystem für Sprachkenntnisse und Ausbildung

Erst kürzlich wurde das System erneut modifiziert: Nun können aus dem Pool gezielt Bewerber aus Berufsfeldern ausgesucht werden, die besonders benötigt werden. Dazu gehören das Gesundheitswesen, die Bauindustrie und der als STEM bezeichnete Sektor - Science (Naturwissenschaften), Technology (Technik), Engineering (Ingenieurwissenschaften) und Mathematics (Mathematik und Informatik).

Zu den wichtigen Einwanderungsprogrammen gehören das "Federal Skilled Worker"- und das "Federal Skilled Trades"-Programm für Fachkräfte. In dieser zweiten Stufe wird wieder ein Punktesystem angelegt für Sprachkenntnisse oder Ausbildung. Weitere Kriterien sind "Anpassungsfähigkeit", Berufserfahrung, Alter und in Aussicht gestellte Arbeitsplätze.

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Die "Economic Class" ist die größte Immigrantengruppe. Zudem gibt es die "Familienklasse": Staatsangehörige und "Permanent residents" können Familienangehörige aus dem Ausland zu sich holen. Jährlich sind es rund 80.000. Die Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge lag 2021 bei 60.000.

Mit der Ankunft der Einwanderer beginnt der manchmal mehrjährige Prozess der Eingliederung. Kanadas Bundesregierung stellt jährlich rund eine Milliarde Kanadische Dollar (rund 700 Millionen Euro), für "Settlement Services" zur Verfügung. "Wir wollen den Neuankömmlingen helfen, sich hier in Ottawa niederzulassen, Fuß zu fassen und zu integrieren", sagt Hassan Ezdahmad. Er ist ein Manager des Ottawa Chinese Community Service Center, das Einwanderern aus rund 120 Ländern hilft.

Hilfe bei der Wohnungssuche

Das Zentrum bietet Sprachunterricht, hilft bei der Suche nach Schulen und Wohnungen oder Behördengängen. In einem Nebenraum sitzen Marina und Artem. Sie kommen aus der Ukraine, Marina kam mit ihrem vierjährigen Sohn und einem Baby vor vier Monaten in Ottawa an. Das Zentrum sei eine große Hilfe, meint Marina. Snezana Mimic kam 1994 während des Bürgerkriegs im früheren Jugoslawien nach Kanada. Sie leitet die Sprachabteilung. "Funktionales Englisch" werde unterrichtet, das im Alltag und bei Jobsuche nützlich sein soll. Die gebürtige Jamaikanerin Juliette Smith leitet die Abteilung Arbeitsplatzsuche und berichtet: "Erst kommen Hilfen bei der Niederlassung, dann der Sprachunterricht und am Ende die Suche nach einem Arbeitsplatz. Da beginnt für die Einwanderer dann das Leben in Kanada."

Juliette hat in Montego Bay im Hotelmanagement gearbeitet und fand in Kanada keinen adäquaten Job. Sie lernte Ingenieure, Ärzte und Anwälte kennen, die nach Kanada emigriert waren und auch nicht in ihrem Beruf arbeiten konnten, weil ihre Ausbildung nicht anerkannt wurde. "Ich dachte mir: Irgendetwas geht schief in diesem System."

Fachkräfte werden oft unterhalb ihrer Qualifikation eingesetzt 

"Das ist ein Thema, das uns seit vielen Jahren beschäftigt", sagt Magdalene Cooman vom Conference Board of Canada, einem regierungsunabhängigen Think Tank. Kanada bringt hochqualifizierte Fachkräfte ins Land, die oft unterhalb ihrer Qualifikation arbeiten. Ex-Einwanderungsminister Fraser erklärte: "Es kann nicht hingenommen werden, dass wir weiterhin Chirurgen, Ärzte und andere weit unterhalb des Niveaus ihrer Ausbildung und Erfahrung arbeiten sehen."


„Kanada kann ohne Immigration nicht überleben, aber der Prozess der Überschreibung ausländischer Qualifikationen ist langsam.“
Binny Joseph, Anwalt

Geschichten von hochqualifizierten Fachleuten, die Taxi fahren, sind keine Mythen, sondern für viele Einwanderer Realität. Grund sei der komplexe, langwierige und teure Prozess der Anerkennung von Qualifikationen, stellt das Conference Board fest. Das bedeutet nicht nur einen Einkommensverlust für die betroffenen Menschen, sondern auch einen Verlust an Steuereinnahmen. Einwanderer brauchen oft Jahre, bis sie wieder auf dem früheren Niveau arbeiten können. Als "transition penalty" bezeichnen Fachleute dies.

Die Anerkennung von Qualifikationen ist ein Problem, das Kanada lösen muss. Binny Joseph kam 2008 aus Indien. In seiner Heimat war er Rechtsanwalt, in Kanada zunächst Sozialarbeiter. Seit 2018 arbeitet er wieder als Anwalt. Er sagt: "Kanada kann ohne Immigration nicht überleben, aber der Prozess der Überschreibung ausländischer Qualifikationen ist langsam."

Skepsis bei Berufsverbänden

Bundesregierung und Provinzregierungen wollen dies ändern, aber die Barrieren liegen oft nicht bei den Regierungen, sondern bei Berufsverbänden und Standesorganisationen, die die Hoheit über Lizenzen haben. Um zumindest den Kostenfaktor anzugehen, wurde ein Programm gestartet, über das Immigranten einen Kredit bekommen können, um das Lizenzierungsverfahren zu finanzieren.

Die Mehrzahl der Immigranten zieht es in große Städte, Kanada braucht nach Ansicht von Fachleuten jedoch eine Strategie, um Niederlassungsdienste auch in kleinen und ländlichen Gemeinden zu etablieren. Zudem macht der Mangel an Wohnraum dem Land zu schaffen. Nach Ansicht von Magdalene Cooman vom Conference Board hat es Verbesserungen in der Einwanderungspolitik gegeben, "aber der Fortschritt ist sehr langsam". 

Der Autor ist freier Journalist in Ottawa.