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Die Publizistin Christina Morina spricht am kommenden Dienstag in einer Feierstunde zum 75. Jahrestag der ersten Bundestagssitzung im Plenum.

Christina Morina zu 75 Jahre Bundestag : "Die Parteien müssen mehr über Repräsentation nachdenken"

Die Historikerin darüber, warum Demokratie zuerst auf der kommunalen Ebene stirbt, es bessere Teilhabe braucht und sie unsere Demokratie trotzdem für stabil hält.

06.09.2024
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6 Min

Frau Morina, vor kurzem hat sich der ostdeutsche Schriftsteller Lukas Rietzschel in einem Interview darüber beschwert, dass "neuerdings die Demokratie in Gefahr sei, weil die Leute nicht mehr so wählen, wie wir das gerne hätten". Er sprach von "Untergangsnarrativen", die immer größer würden. Können Sie diese Kritik verstehen?

Christina Morina: Ich verstehe, was er meint. Über Wahlen verschieben sich die Verhältnisse in diesem Land schon seit längerer Zeit und gerade solche Parteien und Bewegungen erhalten viel Zuspruch, die auf Vereinfachungen und Diffamierungen setzen. Für mich heißt das aber auch nicht, dass die Demokratie in ihren Fundamenten bedroht ist. Wir erleben unsichere Zustände, aber insgesamt halte ich unsere Demokratie für lebendig und stabil.

Nun sind die wenigsten Dinge so perfekt, als dass man sie nicht besser machen könnte. Auch die parlamentarische Demokratie nicht. Relativ neu auf Bestreben der Ampel sind etwa die Bürgerräte. Halten diese aus Ihrer Sicht das Mitsprache-Versprechen?

Christina Morina: Das Entscheidende bei solchen neuen Ideen und Formaten ist immer, welche Erwartungen und Wirkungsversprechen damit verbunden sind. Die Prämisse, Bürger bekommen über dieses Format Mitsprache, ist aus meiner Sicht falsch, weil es in einer parlamentarischen Demokratie grundsätzlich sehr viele Mitspracherechte und Mitsprachemöglichkeiten gibt. Die Frage ist stets: Sind diese noch ausreichend, und ist man damit zufrieden?

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Christina Morina
ist seit 2019 Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld. Ihr aktuelles Buch "Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren" wurde in diesem Jahr mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet.
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Wenn man manche Debatten verfolgt, wirkt es so, als sei dies nicht immer der Fall.

Christina Morina: Das hat auch damit zu tun, dass die Parteien in den vergangenen Jahren immer weniger vermitteln konnten, welche Formen der Mitsprache in ihnen über das Vertretungs- und Repräsentationsprinzip möglich sind. Ich bin deshalb skeptisch, wie die parlamentarische Demokratie mit den jetzt eingeführten Bürgerräten zusammenspielen soll. Denn die Frage ist, ob und welchen Einfluss sie auf Gesetzgebungsverfahren hätten. Wenn es nur scheinbar "mehr" Mitsprache gibt, kann das den Frust erhöhen. Über die Erweiterung von Mitwirkung müssen wir reden, aber ob Bürgerräte das ideale Format sind, weiß ich nicht.

1989 brachte das Neue Forum die Lage in der DDR so auf den Punkt: "Die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft ist offensichtlich gestört." Zumindest als schwierig könnte man das Gespräch zwischen Politikern und Wählern heute doch auch bezeichnen.

Christina Morina: Absolut. Es wird auch immer schwieriger. Zu einem werden die Herausforderungen größer und vielfältiger und müssen immer schneller adressiert werden. Zum anderen ändern sich die kommunikativen Strukturen und Traditionen stark und laufen mit der Digitalisierung unserer Lebens- und Sinnwelten zum Teil völlig auseinander. Aber ohne eine funktionierende, rationale politische Öffentlichkeit ist eine liberale Demokratie schwer vorstellbar. Sie muss völlig neu organisiert werden.


„Etwas oder jemanden vertreten, heißt verbindliche Distanz zum Einzelnen schaffen im Interesse des Gemeinwohls.“
Historikerin Christina Morina

Wie könnte denn ein guter Austausch aussehen?

Christina Morina: Diese Frage stellt sich immer. Aber die parlamentarische Demokratie bietet dafür die bislang besten, effektivsten und am Ende auch humansten Verfahren und Institutionen. Das ist in den letzten Jahren zu sehr aus dem Blick geraten. Kritik an der Kommunikation der Parteien ist wichtig, aber Politik und Gesellschaft sind auf das engste miteinander verwoben. Es ist viel zu schematisch gedacht, "den Staat" und "die Bürger" gegeneinander zu stellen.

Die Kommunikation findet zu einem Großteil über soziale Medien statt. Braucht es mehr Regulierung dieses Dialogs?

Christina Morina: Um auszuhandeln, was Gemeinwohl ist und sein soll, also die res publica, die Dinge, die uns alle betreffen, braucht es Räume, in denen nicht die lautesten Meinungen und Einzelinteressen nach undurchsichtigen oder rein kommerziellen Logiken dominieren. Wenn wir es ernst meinen mit der Bewahrung der liberalen Demokratie im 21. Jahrhundert, dann müssen wir den digitalen Raum als gemeinwohlrelevante Infrastruktur verstehen und entsprechend gestalten. Das ist eine riesige Aufgabe.

Der Wunsch nach Mitsprache und Mitbestimmung: Das sind die Themen, mit denen Sie sich intensiv befasst haben, in ihrer Analyse von Eingabe-Briefen von DDR-Bürgern an diverse Staatsorgane und der beim Bundespräsidenten eingegangenen Bürgerpost. Was hat Sie am meisten überrascht beim Lesen dieser Briefe aus Ost und West?

Christina Morina: Mich hat überrascht, in welcher Weise beide Gesellschaften bewegt und politisiert waren. Für die Bundesrepublik ist das nichts Neues. Aber für die DDR ist es frappierend zu sehen, wie ernsthaft sich Menschen dort unterhalb der Macht- und außerhalb von Oppositionskreisen mit den Problemen der Zeit befasst haben, wie intensiv man sich am Ideal einer besseren Gesellschaft, das in der DDR von vielen hochgehalten wurde, abgearbeitet hat. Oft auch in Verzweiflung, Hass und Abwehr gegen das, was repressive Realität war. Ich hätte gedacht, dass der diktatorische Rahmen dieses briefliche Gespräch statischer macht. Es war aber erstaunlich vielstimmig, klug, durchdacht, auch emotional und konfliktbeladen.

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Dankesrede: In diesem Jahr erhielt Christina Morina für ihr Buch "Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er-Jahren" den Deutschen Sachbuchpreis.

Inwiefern kann uns das helfen, unsere Gegenwart zu verstehen und die politische Landkarte zu deuten, die nach jeder Wahl noch sehr deutlich die alten deutsch-deutschen Umrisse zeigt?

Christina Morina: Für Ostdeutschland ist es wichtig zu erkennen, dass man dort nicht erst 1989 damit angefangen hat, über Demokratie nachzudenken. Es gibt dort eine eigene Demokratietradition, die in der Realität lange natürlich eine Scheindemokratie war, also keine. Aber es gab den Anspruch der "sozialistischen Demokratie" im besseren Deutschland, weshalb ich von einer Demokratieanspruchsgeschichte spreche. In den Briefen zeigt sich das und wirkt bis heute nach, der Wille zur Gestaltung und bürgerschaftliche Kreativität. Und wir sollten nicht nur auf die 30-40 Prozent blicken, die heute populistischen, im Grunde antiparlamentarischen Bewegungen zustimmen, sondern auf die Mehrheit, die stets zu wenig beachtet wird. Vielleicht kann der Blick auf diese vielschichtige Demokratiegeschichte etwas dazu beitragen, die ostdeutsche Zivilgesellschaft zu stärken, weil sie dadurch sichtbarer wird als eine, die gestalten will, mit eigenen Traditionen.

Die Bundesregierung hat eine Wahlrechtsreform verabschiedet, das Petitionswesen reformiert und Bürgerräte etabliert. Was stünde auf Ihrer Wunschliste für den Bundestag der Zukunft?

Christina Morina: Wissen Sie, ich arbeite gerade in den USA. Und eine der erstaunlichsten Erscheinungen dieses erstaunlichen Wahlkampfes ist der Lehrer und Jugendcoach Tim Walz, dem die Herzen zufliegen, seit Kamala Harris ihn als ihren Vize-Kandidaten erkoren hat. Mein Wunsch wäre, dass wir in der repräsentativen Demokratie mehr über Repräsentation nachdenken. Die Parteien brauchen aus der Gesellschaft heraus Menschen in größerer Vielfalt und zugleich kluge Bündelungspersönlichkeiten. Es hat einen eigenen Wert, wenn jemand mit der Autorität eines erfüllten Berufs- und Soziallebens antritt und das auch artikulieren kann. Zugleich verdient Politik als Beruf wieder mehr Anerkennung, weil Politik mehr denn je komplex ist und nur professionalisiert funktioniert. Auch da darf man den Populisten nicht in die Arme fallen, die behaupten, "die Politiker" in Berlin seien nicht bürgernah. Die parlamentarische Demokratie fußt auf beidem, Nähe und Abstand zum gesellschaftlichen Alltag. Etwas oder jemanden vertreten, heißt verbindliche Distanz zum Einzelnen schaffen im Interesse des Gemeinwohls.


„Die Schwäche der Parteien in Ostdeutschland rührt nicht zuletzt auch daher, dass dort zunehmend Parteilose gewählt werden.“
Christina Morina

Auf kommunalpolitischer Ebene häufen sich seit einiger Zeit aber Meldungen über Rückzüge von politischen Ämtern, weil die Übergriffe zunehmen.

Christina Morina: Es ist eine essentielle staatliche Aufgabe, für sichere öffentliche Räume zu sorgen. Hier ist nicht nur die Landes-, sondern auch die Bundespolitik gefragt, denn die Demokratie lebt und stirbt zuerst auf der kommunalen Ebene. Jede/r Abgeordnete im Bund kommt aus einem Wahlkreis und weiß, wie wichtig Parteiengagement vor Ort ist. Die Schwäche der Parteien in Ostdeutschland rührt nicht zuletzt auch daher, dass dort zunehmend Parteilose gewählt werden. Manche loben das als demokratische Zukunftsidee, aber diesen Parteilosen fehlt dann doch der Draht nach Berlin, ihr Einfluss ist aufs Lokale beschränkt. Ein politisches Engagement jenseits von Parteien könnte also das Repräsentationsproblem und die viel beklagte Abkoppelung noch verschärfen.

Nicht voran kommt das von der Regierung geplante Demokratiefördergesetz. Braucht es ein solches Gesetz, um Demokratie vor Ort zu stärken?

Christina Morina: Es kann ein Beitrag sein und deswegen ist es wichtig, dass sich eine Mehrheit der Parteien im Bundestag darauf verständigen, eine im Sinne der demokratischen Ordnung des gesamten Landes gute politische Bildung quer durch die Gesellschaft zu ermöglichen. Aber die Demokratie fördert man nicht allein mit Abendvorträgen und Podiumsdiskussionen. Die größere Aufgabe ist, genauer auf die Voraussetzungen für demokratische Teilhabe und Repräsentation zu schauen und gezielter die dafür nötigen Ressourcen und Strukturen zu stärken. Auf die Rahmen und Räume der Demokratie kommt es an.


Christina Morina spricht anlässlich des 75. Jahrestages der ersten Bundestagssitzung in einer Feierstunde im Plenarsaal am Dienstag, 10. September 2024 zu den Abgeordneten. Als Zeitzeuge redet der frühere FDP-Bundestagsabgeordnete und Bundesinnenminister a.D. Gerhart Rudolf Baum. Die Feierstunde wird live im Parlamentsfernsehen übertragen.

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