Piwik Webtracking Image

Jüdisches Leben in Deutschland : Während neue Synagogen entstehen, wachsen alte Ängste

78 Jahre nach Kriegsende ist die jüdische Gemeinschaft in Deutschland die drittgrößte in Europa. Was an jüdischem Leben aufgebaut wurde, ist nun wieder in Gefahr.

09.11.2023
2024-01-26T09:24:42.3600Z
3 Min
Foto: picture alliance / SZ Photo

Erst vor wenigen Tagen wurde in Dessau eine neue Synagoge eingeweiht- in unmittelbarer Nähe der am 9. November 1938 zerstörten Alten Synagoge.

560.000 Mitglieder zählten die jüdischen Gemeinden in Deutschland vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933. 1950, fünf Jahre nach Kriegsende, lebten nur noch etwa 15.000 Jüdinnen und Juden in der Bundesrepublik. Ein Großteil der bis zu 3.000 Lehr- und Bethäuser war zerstört, einige, wie die Bornplatz-Synagoge in Hamburg, mussten die Gemeinden, von den Nationalsozialisten erzwungen, auf eigene Kosten abreißen. Ihre Grundstücke wurden enteignet.

Jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist die drittgrößte Europas

78 Jahre nach Kriegsende und Holocaust ist die jüdische Gemeinschaft in Deutschland wieder deutlich größer, nach Frankreich und Großbritannien ist sie sogar die drittgrößte in Europa. Rund 225.000 Jüdinnen und Juden lebten 2021 schätzungsweise in Deutschland, rund 95.000 von ihnen gehören unter dem Dach des Zentralrats der Juden (ZdJ) einer von 105 Gemeinden an, von denen sich die größten in München, Berlin und Frankfurt befinden. Dazu kommen 26 Gemeinden und Gruppen, die sich zur "Union progressiver Juden in Deutschland" zählen. Ihre Mitgliederzahl liegt zwischen 5.000 und 6.000.


„Die Menschen haben so viel Angst wie noch nie.“
Charlotte Knobloch, Vorsitzende der israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern

Einen großen Schub für das jüdische Leben in Deutschland gab es zwischen 1993 und 2021: Damals migrierten rund 219.000 Jüdinnen und Juden mit ihren engsten Familienangehörigen als sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik. Und auch im Jahr 2022, nach der russischen Invasion in der Ukraine, erleichterte die Bundesregierung die Zuwanderung jüdischer Flüchtlinge nach Deutschland. Allein in den ersten Kriegswochen kamen nach Angaben der Jüdischen Gemeinde Berlin 3.500 jüdische Flüchtlinge aus der Ukraine in die Bundesrepublik. Darüber hinaus wurden Dutzende Überlebende der Shoah aus der Ukraine evakuiert und werden seither in Seniorenzentren betreut. Knapp die Hälfte der Juden hierzulande hat ukrainische Wurzeln.

Leicht rückläufige Mitgliederzaheln in den Gemeinden

Neben den rund hundert noch existierenden Synagogen und 33 Betsälen in ganz Deutschland entstanden und entstehen in den vergangenen Jahren zahlreiche neue jüdische Gemeindezentren. 2019 wurde in Regensburg am Standort einer zerstörten Synagoge ein Neubau eröffnet, auch Mainz und Speyer haben seit 2020 beziehungsweise 2021 eine neue Synagoge. Zwei Wochen nach den Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wurde in Dessau der erste Synagogen-Neubau in Sachsen-Anhalt seit der Wende eröffnet, am 10. Dezember soll in Magdeburg eine weitere ihre Tore öffnen. Überdies soll die Bornplatz-Synagoge in Hamburg in den kommenden Jahren rekonstruiert werden. Nachdem die Hamburger Bürgerschaft erst am 27. September 2023 einstimmig die Rückgabe des von den Nazis enteigneten Grundstücks beschlossen hatte, hofft die Gemeinde, noch in diesem Jahr den Architektenwettbewerb starten zu können.

Mehr zum Thema

Eine gedeckte weiße Tafel als Solidaritätsaktion für die Geiseln der Hamas
Gastbeitrag zum Antisemitismus in Deutschland: "Es ist ein Albtraum"
Nach dem Terrorangriff der Hamas fordert der Chefredakteur der „Jüdischen Allgemeinen“, Philipp Peyman Engel, die offensive Bekämpfung von Judenhass in Deutschland.
Porträt von C. Bernd Sucher im Anzug mit einer Hand am Kinn.
C. Bernd Sucher im Interview: "Er spuckte mir ins Gesicht"
Der Theaterkritiker C. Bernd Sucher sieht Deutschland als "unsichere Heimat" für Juden an. Die Lesung seines neuen Buches musste er unter Polizeischutz absolvieren.
Gerhard Schröder, Paul Spiegel unterschreiben die Urkunden des Staatsvertrages
Vor 20 Jahren...: Zusammenarbeit mit dem Zentralrat der Juden gestärkt
Der erste Staatsvertrag zwischen dem Bund und dem Zentralrat der Juden verpflichtet die Bundesregierung zur Erhaltung und Pflege des deutsch-jüdischen Kulturerbes.

Laut Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) ist die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinden leicht rückläufig. Das liegt auch daran, dass knapp die Hälfte der Gemeindemitglieder über 60 Jahre alt ist. Außerdem wandern kaum noch Jüdinnen und Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ein. 2021 waren es auch wegen neuer Zuwanderungsgesetze nur noch 509 Personen.

Die Lage der Zuwanderer ist oft prekär: Dem ZWST zufolge sind im Rentenalter rund 93 Prozent von Altersarmut betroffen. Für sie und andere betroffene Gruppen hat die Bundesregierung 2022 einen Härtefallfonds eingerichtet.

Für jüngere Jüdinnen und Juden stellt sich im Zuge zunehmender judenfeindlicher Übergriffe in diesen Tagen die Frage, wie sicher das Leben in Deutschland noch für sie ist. So berichtete die Vorsitzende der israelitischen Kultusgemeinde für München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, diese Woche dem "Tagesspiegel": "Die Menschen haben so viel Angst wie noch nie. Manche überlegen sogar, das Land zu verlassen."