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Das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen in Berlin: Der von den Nazis verschärfte Paragraf 175 galt in der Bundesrepublik noch bis 1969 fort.

Paragraf 175 Strafgesetzbuch gestrichen : „Ein Symbol der Unmenschlichkeit“

Mehr als 123 Jahre wurden homosexuelle Männer kriminalisiert. Am 10. März 1994 strich der Bundestag den berüchtigten Paragrafen 175 aus dem Strafgesetzbuch.

06.03.2024
2024-03-14T14:13:42.3600Z
5 Min

Mehr als 123 Jahre hatte sich der berühmt-berüchtigte Paragraf 175 im Strafgesetzbuch (StGB) gehalten. Am 10. März 1994 zog der Bundestag mit großer Mehrheit einen Schlussstrich unter die strafrechtliche Verfolgung und Stigmatisierung homosexueller Männer – und schaffte den Paragrafen ab. „Der Wegfall des Paragrafen 175 StGB kommt spät, vielleicht zu spät, aber er kommt“, freute sich der FDP-Abgeordnete Jörg van Essen in der Debatte.

Der Paragraf 175 wurde seit dem Kaiserreich dazu genutzt, um homosexuelle Männer beziehungsweise Männer, die mit Männern Sex hatten, zu kriminalisieren. Unter den Nationalsozialisten wurde der Paragraf noch einmal verschärft: Zehntausende Männer wurden in Konzentrationslager verschleppt, viele kamen dort ums Leben.

Männliche Homosexualität galt als Gefahr für die Jugend

In der jungen Bundesrepublik wurde der von den Nazis verschärfte Paragraf weiter genutzt, um homosexuelle Männer zu verfolgen. Zehntausende Männer wurden verurteilt. Die Kriminalisierung, die Überwachung durch die Polizei und die Erfassung von Homosexuellen in „Rosa Listen“ zementierte die gesellschaftliche Ausgrenzung und Stigmatisierung der Männer.

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Begründet wurde die strafrechtliche Verfolgung in der Regel mit dem Verweis auf die sittlichen Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft, auch die Kirchen lehnten die Liberalisierung in diesem Bereich lange ab. Um die explizite Verfolgung von Männern zu rechtfertigen, wurden biologistische Argumente ins Feld geführt. Die „geschlechtliche Aggressivität“ mache es evident, „daß die Gefahr der Verbreitung der Homosexualität beim Manne weit größer ist als bei der Frau“, schrieb etwa das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil von 1957 – und lehnte es damit ab, den Paragraf 175 als verfassungswidrig zu verwerfen. Die Karlsruher Richter zeigten sich zudem um heranwachsende Männer besorgt. Sie, so das Argument, seien besonders verführbar und müssten entsprechend davor geschützt werden, homosexuelle Neigung zu entdecken und zu entwickeln.

Dieses Argument, der Schutz der Jugend, erwies sich in der Debatte um den Paragrafen 175 StGB am langlebigsten. 1969 hatte die Große Koalition in einem ersten Schritt – inmitten der anrollenden sexuellen Revolution - die Strafbarkeit sexueller Handlung zwischen volljährigen Männern aufgehoben. Dies hatten Reformer bereits seit dem Kaiserreich erfolglos gefordert.

Nach der Teil-Legalisierung galt ein Doppelstandard beim Schutzalter

Man beließ es aber bei einem Doppelstandard: Die Schutzaltersgrenze lag bei 21 Jahren. Ein Mann über 18 Jahren machte sich grundsätzlich strafbar, wenn er mit einem Mann unter 21 Jahren „Unzucht“ trieb. Für sexuelle Handlungen zwischen Männern und Frauen beziehungsweise Frauen galten geringere Schutzaltersgrenze. Das war auch nach der nächsten Reform des Paragrafen 175 im Jahr 1973 so. Die sozial-liberale Koalition setzte die Grenze auf 18 Jahre, beließ aber den Doppelstandard.

Danach passierte lange nichts. FDP und später die Grünen setzten sich zwar für Abschaffung des Paragrafen 175 ein, fanden damit aber keine Mehrheit. Auch die Schwulenrechtsbewegung forderte ein Ende der Kriminalisierung sowie der damit einhergehenden Schikane durch die Strafverfolgungsbehörden.

Die DDR war im Strafrecht liberaler

Bewegung in Debatte kam mit der Wiedervereinigung. Denn die DDR war bei dem Thema strafrechtlich schlicht weiter: Dort hatte man schon früh von dem durch die Nationalsozialisten verschärften Variante Abstand genommen. 1969 wurde mit dem Paragraf 151 im Strafgesetzbuch der DDR ein einheitliches Schutzalter von 18 Jahren für gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen aufgenommen. Diese Vorschrift hob das Oberste Gericht der DDR 1987 auf, 1988 strich die Volkskammer den Paragrafen ersatzlos – und schuf damit eine einheitliche Rechtslage für alle.

Mit der Wiedervereinigung galten dann plötzlich zwei Rechtsnormen. Darauf hatte man sich im Einigungsvertrag verständigt. Im Beitrittsgebiet galt damit weiterhin die liberalere DDR-Regelung, gleiches galt auch für die Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch. Mit dem 1993 von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf (12/4584) sollte der Umstand enden. Der Entwurf sah die Streichung von Paragraf 175 sowie eine einheitliche Schutzregelung für Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren vor. Von der bisher ins Feld geführten Argumentation, männliche Heranwachsende seien besonders schutzbedürftig, nahm die schwarz-gelbe Bundesregierung Abstand.

Dissens beim Schutzalter, Einigkeit bei der Streichung

In den Debatten im Bundestag stritten sich die Fraktionen und Gruppen insbesondere über die neue vorgesehene Schutzaltersregelung, waren sich aber in der Sache über die Streichung des Paragrafen 175 einig. Mit der Streichung gehe eine „lange und unheilvolle Geschichte dieses Paragrafen zu Ende“, sagte Barbara Höll (PDS/Linke.Liste) in der Debatte vor der Verabschiedung des Entwurfes.

Jürgen Meyer (SPD) freute sich über das Ende der „immer wieder und mit Recht kritisierten Diskriminierung homosexueller Männer“. Die Vorstellungen, „der männliche Jugendliche könne durch das Strafrecht gegen Störungen seiner Entwicklung und insbesondere gegen die Verführung zur Homosexualität geschützt werden“, sei dem Sozialdemokraten zufolge der Erkenntnis gewichen, dass „die sexuelle Orientierung und damit auch die Disposition zur Homosexualität bereits in der frühkindlichen Phase und damit lange vor dem 14. Lebensjahr abgeschlossen ist“.


„Mit ihm … verbindet sich die schlimme Erinnerung an die Massenverschleppung von Homosexuellen, an ihre Ermordung in Konzentrationslagern.“
Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) über den Paragraf 175

Die damalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) erinnerte – wie auch Meyer – an die NS-Geschichte des Paragrafen. „Mit ihm … verbindet sich die schlimme Erinnerung an die Massenverschleppung von Homosexuellen, an ihre Ermordung in Konzentrationslagern. Damit ist er ein Symbol der Unmenschlichkeit“, so die liberale Spitzenpolitikerin.

Von Seiten der Union, die lange gegen die Abschaffung des Paragrafen argumentiert hatte, wurde ebenfalls auf die wissenschaftliche Erkenntnis zur frühkindlichen Prägung der Sexualität verwiesen. „Damit gibt es keinen Grund mehr, Jugendliche vor homosexuellen Kontakten strafrechtlich stärker zu schützen als vor heterosexuellen“, sagte Horst Eylmann. Es sei gut, dass der Paragraf „verschwindet“ – auch deshalb, weil durch seine Existenz immer wieder „die irrige Auffassung“ gestützt werde, homosexuelle Handlungen würden in Deutschland schlechthin unter Strafe gestellt. Das sei aber schon seit über 20 Jahren nicht mehr der Fall, so der damalige Vorsitzende des Rechtsausschusses.

Den sachlichen Ton der Debatte lobend wies Eylmann allerdings darauf hin, „dass es für manche in diesem Parlament und natürlich für manche in der Bevölkerung nach wie vor ein Problem ist, die Homosexualität als gleichberechtigte sexuelle Orientierung zu betrachten“. Forderungen aus „interessierten Kreisen“ auf Akzeptanz statt Duldsamkeit gegenüber Homosexuellen, erteilte der Christdemokrat eine Absage. Der Staat dürfe „Toleranz gegenüber Homosexuellen“ einfordern und müsse sie auch durchsetzen – „nicht mehr, aber auch nicht weniger“.

Der lange Weg zur Akzeptanz

Das Inkrafttreten des Gesetzes am 11. Juni 1994 war daher ein Meilenstein für die schwule und homosexuelle Emanzipationsbewegung in der Bundesrepublik, aber noch lange nicht das Ende. Der Weg von der Toleranz zur Akzeptanz dauerte noch zwei Jahrzehnte: 2001 kamen die eingetragenen Lebenspartnerschaften, in den Jahren danach sorgte das Bundesverfassungsgericht für die weitgehende Gleichstellung mit der Ehe, bis schließlich 2017 die „Ehe für alle“ beschlossen wurde.

Im selben Jahr – 23 Jahre nach der Streichung von Paragraf 175 StGB - erkannte der Bundestag auch das Unrecht an, dass die Verfolgung homosexueller Männer durch den Staat war. Die Opfer wurden rehabilitiert – und finanziell entschädigt. 2002 hatte der Bundestag gleiches schon für die Verurteilten während der NS-Zeit getan.

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