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Gastkommentare : Pro und Contra: Lässt sich sterben regeln?

Das Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe wurde gekippt. Rainer Woratschka und Kerstin Münstermann im Pro und Contra, wie der Staat mit dem heiklen Thema umgehen soll.

10.07.2023
2024-03-14T14:50:37.3600Z
2 Min

Pro

Handeln tut not

Foto: privat
Rainer Woratschka
arbeitet bei "Der Tagesspiegel" in Berlin.
Foto: privat

Erst mal ganz ruhig. Keiner will, dass der Staat das Sterben regelt - er könnte es nicht, sollte es sich niemals anmaßen. Beihilfe zum Suizid jedoch darf nicht regellos bleiben. Momentan ist sie es, denn seit das Bundesverfassungsgericht das Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe gekippt hat, traute sich der Gesetzgeber nicht mehr an dieses heikle Thema. So kann theoretisch wieder jeder windige Geschäftemacher an der Not verzweifelter Menschen verdienen. Und sie - sagen wir es deutlich - aus Eigeninteresse auch zur Selbsttötung animieren. Etwa durch das Versagen anderweitiger Hilfe oder das Verschweigen von Behandlungsoptionen.

Handeln tut also not. Behutsamkeit allerdings auch. Denn es geht hier um einen Zielkonflikt. Einerseits: Wie lässt sich verhindern, dass Suizid-Beihilfe "normal" wird und daraus Druck auch auf andere entsteht, der Gesellschaft bei körperlicher Hinfälligkeit nicht "zur Last zu fallen"? Andererseits: Wie kann man vermeiden, dass die gesellschaftlich für nötig erachtete Beschränkung individuell nicht zu verfügtem Ertragen-Müssen von Leid führt, das dem Gebot der Menschlichkeit widerspricht?

Keine Frage: Onkologen und Palliativmediziner benötigen keine Justiz, die ihnen verantwortungsvolles Tun verwehrt. Die Grenzen zwischen entschiedener Schmerzlinderung und Sterbehilfe können fließend sein. Aktuell scheint die Regellosigkeit viele Ärzte aber eher zu verunsichern - und von aktiver Hilfe abzuhalten. Vorteil einer Regelung mit Beratungspflicht wäre zudem, dass endlich mal Zahlen auf den Tisch kämen. Und Erfahrungen im Umgang mit Suizidwilligen, die sich evaluieren lassen. Damit ließe sich arbeiten. Und vielleicht auch manche Verzweiflungstat verhindern.

Contra

Das braucht es nicht

Foto: Andreas Krebs
Kerstin Münstermann
arbeitet bei "Rheinische Post" in Düsseldorf.
Foto: Andreas Krebs

In Deutschland haben sich 9.215 Menschen im Jahr 2021 das Leben genommen: eine hohe Zahl. Aktuell existiert in Deutschland keine Gesetzesregelung zur Sterbehilfe. Sie ist straffrei möglich, seit das Verfassungsgericht das Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe kippte. Das Gericht erkannte ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben ausdrücklich an - und auch die Freiheit, sich dafür Hilfe bei Dritten zu holen. Detaillierte Regelungen stellte das Gericht dafür nicht auf.

Der Staat sah sich durch das Urteil gefordert, die parlamentarische Beratungen begannen und dauerten an. Die Selbsttötung ist zwar immer noch ein Tabu, verboten war sie jedoch nie. Für manchen ist sie der Ausdruck der ultimativen menschlichen Selbstbestimmung, andere sehen darin einen ungehörigen Eingriff in den Lauf des Lebens. Eigentlich immer ist es ein Hilfeschrei, möglicherweise der letzte Ausweg aus einer grauenhaften persönlichen Situation. Gut ist, dass das Parlament das Thema aus der Tabuzone geholt hat, über die Frage des Todes fraktionsübergreifend und ernsthaft debattierte. Normalerweise vermeidet die Gesellschaft peinlich berührt die Diskussion über diese grundlegenden Fragen.

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Aber kann der Staat den Wunsch zu sterben wirklich regeln? Nein. Der Staat muss vorher wirken und Suizid-Gefährdeten entsprechende Hilfs-Angebote machen, soweit er das kann. Die Schaffung eines Verfahrens welcher Art auch immer birgt die Gefahr einer gewissen Normalisierung des Suizids. Zahlen aus den Niederlanden oder Belgien etwa belegen das. Der Selbstmord als "normale" Art des Sterbens? Dazu darf es niemals kommen.