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Gastkommentare : Pro und Contra: Weniger Grundgesetzänderungen?

Sollte die Politik das Grundgesetz weniger ändern? Daniel Goffart spricht dafür aus, Tatjana Heid dagegen.

11.04.2023
2024-03-14T14:44:24.3600Z
3 Min

Pro

Kurz, klar und schön

Foto: Privat
Daniel Goffart
arbeitet bei "Wirtschaftswoche", Düsseldorf
Foto: Privat

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes waren Meister der kurzen, prägnanten Sprache. Bei der Formulierung der vorläufigen Verfassung, als das unser Grundgesetz damals in der Hoffnung auf die noch ausstehende Wiedervereinigung galt, schrieben sie einfache, aber klare Sätze auf: Die Würde des Menschen ist unantastbar, alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, Männer und Frauen sind gleichberechtigt, die Wohnung ist unverletzlich, politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Die ersten 19 Artikel galten als Richtschnur des neuen, freien, demokratischen Staats - sie waren im Wortsinn ein "Grund"-Gesetz, das heißt, sie sollten lediglich die Grundzüge und den Wesenskern dessen festlegen, was im Detail spezialgesetzlichen Regelungen überlassen blieb. Vergleicht man die erste Fassung des Parlamentarischen Rats in Bonn mit dem heutigen Text des Grundgesetzes, dann fallen zahlreiche Erweiterungen ins Auge, die mit der sprachlichen Schönheit und Präzision der Urfassung nicht mehr viel gemein haben. Der Grund dafür findet sich in dem nur allzu bekannten Bedürfnis deutscher Juristen und Politiker, alles möglichst umfassend zu regeln. Das Resultat sind leider oft Sprachungetüme, die keiner mehr versteht.

Dahinter steckt aber auch die Neigung der Politiker, alles Wünschenswerte in die Grundgesetztexte zu zwängen. Der Artikel 12a zum Wehrdienst ist dafür ein ebenso trauriges Beispiel wie der Artikel 17a zur Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit oder der Artikel 16 a zum Asylrecht. Mit solchen ausufernden Regelungen wird wohl auch versucht, das Bundesverfassungsgericht einzuhegen und die schmerzlichen Korrekturen der Richter in den roten Roben auf ein Minimum zu begrenzen.

Contra

Raum für Wandel

Foto: privat
Tatjana Heid
arbeitet bei "Frankfurter Allgemeine Zeitung"
Foto: privat

Als das Grundgesetz im Mai 2019 siebzig Jahre alt wurde, war es bereits mehr als sechzig Mal geändert worden. Betroffen war ungefähr jeder zweite Artikel, einige sogar mehrfach. Das Grundgesetz, könnte man sagen, ist eine Dauerbaustelle. Aber ist das schlimm? Nein. Es ist notwendig.

Wichtig ist: Manches bleibt unantastbar. Eine Grundgesetzänderung darf weder den föderalen Staat in Frage stellen, noch die Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung schleifen und auch nicht die in den Artikeln 1 und 20 festgelegten Grundsätze berühren. Zudem sind die Hürden für eine Grundgesetzänderung hoch. Sowohl der Bundestag als auch der Bundesrat müssen ihr mit Zweidrittelmehrheit zustimmen. Und doch muss Raum für Wandel sein.

Das zeigt ein Blick in die Geschichte. In seiner Anfangszeit war das Grundgesetz gedacht als Provisorium für einen - damals noch nicht souveränen - Teilstaat. Gemacht mit Blick auf die Vergangenheit, Leitgedanke "Nie wieder". Seither hat das Land sich verändert. Und das Grundgesetz musste Schritt halten. Das war schon in den 1950er Jahren so, als es um die Frage der Wiederbewaffnung ging, bei den Notstandsgesetzen 1968, bei den Verfassungsänderungen nach der Wiedervereinigung und auch, als 1994 der Umweltschutz als Staatsziel ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Vergangenes Jahr dann wurde die Verfassung für das Bundeswehr-Sondervermögen geändert. Auch das eine Reaktion auf eine sich wandelnde Welt. Das Grundgesetz ist kein statisches Gebilde, darf es nicht sein. Wäre es das, würde es an Akzeptanz verlieren - und wie eine Verfassung für eine längst vergangene Zeit wirken.

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