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Foto: picture alliance/dpa | Stefan Jaitner

Parlamentarischer Rat : Die Wiedergeburt der Demokratie

Der Parlamentarische Rat verbesserte das demokratische Erbe Deutschlands - und schuf die erfolgreichste Verfassung der deutschen Geschichte.

11.04.2023
2024-05-08T13:29:27.7200Z
5 Min

Die 61 Männer und vier Frauen, die zwischen September 1948 und Mai 1949 im Parlamentarischen Rat in Bonn zusammenkamen, schufen die erfolgreichste Verfassung der deutschen Geschichte. Die Konstitution von 1848/49, die ziemlich genau 100 Jahre zuvor die erste deutsche Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche erarbeitet hatte, wurde nie wirksam, weil der preußische König sie verwarf. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 war nur 14 Jahre in Kraft, ehe sie durch die Reichstagsbrandverordnung und das Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten faktisch abgeschafft wurde. Selbst die von Bismarck geprägte Verfassung des Kaiserreichs von 1871, die neben einem für damalige Verhältnisse demokratischen Wahlrecht viele obrigkeitsstaatliche Elemente enthielt, überdauerte bis zur Revolution 1918 nur 47 Jahre.

Das Grundgesetz hingegen existiert, in seinem Wesensgehalt unverändert, mittlerweile fast ein Dreivierteljahrhundert. Es wurde zu einem Symbol für die Rückkehr der Deutschen in den Kreis der zivilisierten Nationen nach den Verbrechen der NS-Diktatur und zu einem wesentlichen Element staatlicher und gesellschaftlicher Identität in Deutschland. Der Erfolg verdankte sich zum Teil Entwicklungen, auf die die Abgeordneten im Parlamentarischen Rat keinen Einfluss hatten, ja die sie 1948/49 nicht einmal vorausahnen konnten. Der Wirtschaftsaufschwung der 1950er Jahre trug entscheidend zur Kräftigung des westdeutschen Teilstaats bei. Die außenpolitische Lage im Kalten Krieg sorgte zudem dafür, dass die Bundesrepublik anders als das Kaiserreich, die Weimarer Republik oder NS-Deutschland im Norden, Süden und Westen keine Feinde hatte, dafür aber jede Menge Verbündete - allen voran jenseits des Atlantiks die USA.

Antwort auf die Selbstabschaffung der Demokratie 1933

Dennoch war der Parlamentarische Rat für das Gelingen der zweiten deutschen Demokratie wesentlich. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes waren entschlossen, eine Wiederholung der nationalsozialistischen Unrecht- und Gewaltherrschaft mit den Mitteln des Verfassungsrechts zu verhindern. Das Grundgesetz war ihre Antwort auf das "Dritte Reich" und die Selbstabschaffung der Demokratie 1933. Die westlichen Siegermächte wirkten als Initiatoren, Impulsgeber und letzte Instanz, die am Ende das Verfassungswerk zu genehmigen hatte. Ihre Vorgaben lauteten: parlamentarische Demokratie, individuelle Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit. Zur Ausgestaltung dieses Rahmens orientierte sich der Parlamentarische Rat an der deutschen Verfassungstradition. Er wollte das demokratische Erbe deutscher Geschichte von der Paulskirche bis Weimar fortsetzen und verbessern und dabei aus dem Scheitern der Weimarer Demokratie die richtigen Schlüsse ziehen.

Die meisten Abgeordneten, die in Bonn zusammenkamen, waren Juristen wie Konrad Adenauer (CDU), wenn nicht gar ausgewiesene Verfassungsexperten wie Carlo Schmid (SPD) oder Thomas Dehler (FDP). Und sie verfügten über viel Erfahrung als Volksvertreter. Knapp die Hälfte war bereits in der Weimarer Republik aktiv gewesen, sei es im Reichstag oder einem Landtag; drei Abgeordnete hatten schon 1919 in der Nationalversammlung gesessen. Fast alle wirkten nach dem Zweiten Weltkrieg in einem der Parlamente mit, die nach 1946 in den elf Ländern der drei Westzonen und Berlin Landesverfassungen ausarbeiteten, oder gehörten überzonalen Einrichtungen wie dem Frankfurter Wirtschaftsrat an.

Ministerpräsidenten wollten keine Nationalversammlung

Der Durchbruch vom Wirtschaftsverbund zum politisch verfassten Gemeinwesen fand im Schatten der ersten großen Krise des Kalten Krieges statt, als die Sowjetunion in der ersten Jahreshälfte 1948 den Zugang nach West-Berlin immer weiter erschwerte und schließlich sperrte. Im Frühjahr desselben Jahres hatten die USA und Großbritannien die Benelux-Staaten und Frankreich dazu gebracht, einer Umwandlung der westdeutschen Wirtschaftszone in einen regelrechten Staat zuzustimmen. Die einzigen gewählten Vertreter des deutschen Volkes, die dieser Entscheidung demokratische Legitimität verleihen konnten, waren die Ministerpräsidenten der elf Länder. Sie wurden von den alliierten Militärgouverneuren im Juli 1948 aufgefordert, die Verfassung eines westdeutschen Staates vorzubereiten.

Die Ministerpräsidenten befürchteten eine Zementierung der deutschen Teilung und reagierten daher zurückhaltend. Sie bestanden darauf, nur einen Parlamentarischen Rat einzuberufen, keine Nationalversammlung. Sie wollten keine Verfassung, sondern lediglich das "Grundgesetz" eines Provisoriums. Die Ratifizierung sollte auch nicht per Volksentscheid erfolgen, sondern in den Landtagen.

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Der Parlamentarische Rat auf seiner Konstituierenden Sitzung am 1. September 1948 in Bonn.

In einigen Bestimmungen knüpfte das Grundgesetz an längere Traditionslinien deutschen Staats- und Verfassungsrechts an. Schon die Konstitutionen von 1848 und 1919 hatten individuelle Freiheits- und politische Partizipationsrechte enthalten. Der Föderalismus der Bundesrepublik erinnerte in manchem an die Verfassung von 1871; die lange umstrittene Ausgestaltung des Bundesrates beispielsweise sah, wie im Kaiserreich und anders als etwa beim US-Senat, weisungsgebundene Vertreter der Landesregierungen vor, keine eigens gewählten Parlamentarier.

An entscheidenden Punkten jedoch brach der Parlamentarische Rat mit überkommenen Vorstellungen. Auf direktdemokratische Elemente verzichtete er fast völlig. Das Staatsoberhaupt wurde weitgehend auf Repräsentationsaufgaben beschränkt und seiner plebiszitären Legitimation entkleidet. Es gab keinen Notverordnungsparagrafen, der es dem Reichspräsidenten vor 1933 ermöglicht hatte, am Parlament vorbeizuregieren. Gestärkt wurde hingegen der Kanzler. Er legt die Richtlinien der Politik fest und kann nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt werden.

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Um zu verhindern, dass Demokratie und Rechtsstaat wieder auf legale Weise in ein diktatorisches Unrechtsregime verwandelt werden konnten, konzipierte der Parlamentarische Rat die Bundesrepublik als "wehrhafte Demokratie" und versah den Kernbestand der Verfassung mit einer Ewigkeitsgarantie, die von keiner noch so großen Mehrheit verändert werden durfte. Erstmals in der deutschen Geschichte wurden die Grundrechte nicht als etwas gefasst, das der Staat seinen Bürgern gewährte; das Grundgesetz gestaltete sie vielmehr als Normen, die dem Staat vorausgingen und ihn banden.

Die Menschenwürde wurde für unantastbar erklärt und an den Anfang gestellt, um klarzumachen, dass die gesamte Verfassung im Licht dieser Bestimmung auszulegen sei. Neu waren auch die ausdrückliche Erwähnung der Parteien und die Möglichkeit, verfassungsfeindliche Parteien zu verbieten. Diese Aufgabe sollte einem obersten Gerichtshof als "Hüter der Verfassung" obliegen. Weil sich der Parlamentarische Rat über dessen konkrete Ausgestaltung nicht einig werden konnte, wurde das Bundesverfassungsgericht jedoch erst 1951 gegründet.

Flexibel genug für Fortentwicklungen

Das Grundgesetz schuf nicht nur eine gelungene Institutionenordnung, in deren Rahmen sich die Bürger der Bundesrepublik allmählich damit anfreundeten, in einer parlamentarischen Demokratie zu leben. Es zeigte sich auch flexibel genug, Fortentwicklungen zu erlauben: etwa den Aufbau der Bundeswehr 1956, die Notstandsregelungen 1968, die Neufassung des Asylrechts 1993, die Ausweitung der Staatszielbestimmungen 1994 (Umweltschutz) und 2002 (Tierschutz), von der Intensivierung des Grundrechtsschutzes durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ganz zu schweigen.

Obwohl viele Änderungen heftig umstritten waren, haben sie am hohen Ansehen, welches das Grundgesetz genießt, kaum etwas geändert. Sie haben im Gegenteil eher den Eindruck verstärkt, den die drei Militärgouverneure zu Protokoll gaben, als sie am 12. Mai 1949 einer Delegation des Parlamentarischen Rats ihr Genehmigungsschreiben übergaben. Das Grundgesetz, hieß es darin, vereine "deutsche demokratische Tradition in glücklicher Weise mit den Begriffen einer repräsentativen Regierung und einer Rechtsordnung, welche die Welt nunmehr als für das Leben eines freien Volkes unerlässlich betrachte". 

Dominik Geppert, Professor für Geschichte des 19./20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam, ist Präsident der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien.