Piwik Webtracking Image

Foto: picture alliance / Westend61 / Uwe Umstätter
Emma Holten zeigt in ihrem Buch, dass sich Fürsorgearbeit nicht auf der Grundlage von Kosten-Nutzen-Analysen bemessen lässt.

Mangelnde Anerkennung von Care-Arbeit : Das Preisetikett für Menschlichkeit

Emma Holten erklärt in „Unter Wert“, warum die Care-Arbeit in der Krise steckt – und seit Jahrhunderten zu wenig Anerkennung bekommt.

22.05.2025
True 2025-05-22T17:49:49.7200Z
4 Min

Ein Brötchen hat einen Preis, der sich nach Kriterien wie Produktionskosten und Gewinnerwartung bestimmen lässt. Damit ist auch sein Wert festgesetzt, den die Käufer mit ihrer Nachfrage beeinflussen können. Doch was ist es wert, einem Alzheimer-Kranken vorzulesen oder einer Bettlägerigen die Hand zu streicheln? Emma Holten sieht die Ursache der Krisenlage im Fürsorgebereich darin, dass marktwirtschaftliche Strategien immer mehr Lebensbereiche immer ausschließlicher bestimmten. Damit würde alles, was sich nicht mit einem Preis etikettieren ließe, zu etwas ohne Wert. 

Und Frauen, die besonders häufig Leistungen im sozialen oder häuslichen Bereich erbringen, die nicht einfach zu quantifizieren sind, abgewertet. "Als Säugling oder Komapatientin können wir für die Fürsorge, die wir bekommen, keinen Preis beziffern", betont die dänische Autorin, die Mitglied des Sachverständigenforums des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen und des Beratungsausschusses für Frauenrechte von Human Rights Watch ist. Für einen Schüler mit Lernproblemen sei die Förderung durch eine Lehrerin von ganz anderer Bedeutung als für einen guten Schüler mit viel Hilfe aus dem Elternhaus.


„Der Glaube an die Theorie vom Gleichgewicht wurde für den gesamten Fürsorgesektor zur Katastrophe.“
Autorin Emma Holten

Für Holten liegt der Ursprung der Misere im veränderten Blick auf die Welt, der sich mit der Aufklärung ab Ende des 17. Jahrhunderts entwickelt hat. Philosophen wie Adam Smith hätten einen rationalen Menschen als Idealtypus beschrieben, dessen eigennütziges Streben nach mehr Vermögen sinnvoller Antrieb für einen sich selbst regulierenden Markt sei. Den Naturgesetzen folgend entstehe quasi automatisch ein Markt im Gleichgewicht mit angemessenen Preisen und Löhnen. "Jedes Mal, wenn heutzutage eine wirtschaftliche Entscheidung getroffen wird, passiert das auf Grundlage der damaligen Theorien und Methoden", schreibt Holten. 

Streben nach Vermögen lässt Fürsorge unter den Tisch fallen

Bei diesen Marktmodellen sei der Fürsorgebereich unter den Tisch gefallen oder wurde einer privaten, emotionalen, weiblichen Sphäre zugeordnet, die als unproduktiv abgewertet wurde: "Der Glaube an die Theorie vom Gleichgewicht wurde für den gesamten Fürsorgesektor zur Katastrophe." Ignoriert worden sei, dass sich Menschen auch uneigennützig um andere kümmern, Hilfe leisten und Kinder versorgen, die später Arbeitskräfte werden. Fürsorge sei die nötige Voraussetzung für andere Arbeit, die sich bepreisen lasse.


Emma Holten:
Unter Wert.
Warum Care-Arbeit seit Jahrhunderten nicht zählt.
dtv,
München 2025;
288 S., 22,00 €


Sehr anschaulich beschreibt Holten die Folgen des "economic style of thinking" seit den 1980er-Jahren: Da habe sich die Grundannahme durchgesetzt, Angestellte im öffentlichen Dienst würden so wenig wie möglich arbeiten und Fürsorgeempfänger so viel wie möglich - auch unberechtigt - an Leistungen bekommen wollen. Diese Unterstellungen von Eigennutz, Faulheit, Betrug bei gleichzeitiger Suche nach Einsparpotenzialen habe dazu geführt, dass ständig versucht werde, zu messen, zu vergleichen und dann Kürzungen vorzunehmen. 

Es gehe nur noch darum, möglichst viel Gewinn bei möglichst geringen Kosten zu machen. Die Folgen: Viel Zeitaufwand für Dokumentation und Bürokratie zulasten menschlicher Zuwendung, steigender Zeitdruck, keine Freude mehr an der Arbeit, Qualitätsverlust, positive Effekte für die zu versorgenden Menschen nehmen ab.

Holten beschreibt, wie Fürsorgearbeit mehr Wertschätzung erhalten kann

Holten zeigt auf, dass sich Fürsorgearbeit nicht wie eine Fabrik auf der Grundlage von Kosten-Nutzen-Analysen führen lässt. Marktwirtschaftliche Mechanismen würden menschliche Bedürfnisse nach sinnvoll empfundener Tätigkeit nicht berücksichtigen und nicht einkalkulieren, dass eine effektive Fürsorge Beziehungsarbeit, also Zeit für Zuhören und Einfühlungsvermögen, beinhalten müsse: "Für im Fürsorgebereich arbeitende Menschen wird es immer schwieriger, den ihnen Anvertrauten das zu geben, was sie brauchen, denn das ist nicht das Erfolgskriterium für ihre Arbeit."

Holtens Analyse, die zuweilen etwas zu schematisch scheint - beispielsweise was die das Mittelalter mit all seinen Grausamkeiten ablösende Aufklärung angeht -, ist konsequent aus dem Blickwinkel der Frage gedacht, wie Fürsorge mehr Wertschätzung erlangen kann und warum das wichtig ist.

Mehr Buchrezensionen

Kind liegt mit ausgestreckten Armen im Sand und lacht
Unverzichtbare Außenseiter: Warum die Politik Familien besser unterstützen muss
Die Belange von Kindern und Familien spielen in unserer modernen Gesellschaft eine untergeordnete Rolle. Zwei Bücher analysieren, was sich ändern sollte.
Die Herausgeberinnen Cécile Weidhofer, Stefanie Lohaus und Tannaz Falaknaz
Frauen in der Politik: Gleiche Rechte, ungleiche Macht
Politik bleibt eine Männerdomäne - trotz über 100 Jahren Frauenwahlrecht. Ein neues Buch zeigt, warum gleiche politische Teilhabe noch immer auf sich warten lässt.
Eine Frau und ein Kind hängen Wäsche im Garten auf
Alexandra Zykunov im Interview : "Pralinen reichen nicht"
Autorin Alexandra Zykunov über Gleichberechtigung, unbezahlte Care-Arbeit und neue alte Rollenbilder.

Wie es besser laufen könnte beschreibt Holten anhand eines Altenpflegemodells aus den Niederlanden, bei dem die Angestellten mindestens 61 Prozent ihrer Arbeitszeit mit den Senioren verbringen, große Freiheiten bei der Gestaltung ihrer Arbeit haben und die Bürokratie auf ein Minimum reduziert ist. Patienten und Angestellte zeigten, dass sie dasselbe wollten, nämlich mehr Platz für Menschlichkeit. 

Die Angestellten hatten mehr Freude bei der Arbeit, die Betreuten waren sehr zufrieden. Für Emma Holten klar, mehr Wertschätzung für Care-Arbeit und eine bessere Bezahlung führen zu mehr Gleichstellung, Zufriedenheit, Gesundheit und Menschlichkeit – und zwar spürbar.