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Ortstermin: Auf den Spuren eines Phantoms : Der gute Geist des Hohen Hauses

Seine Existenz ist zweifelhaft und doch gratuliert ihm sogar die Bundestagspräsidentin: Der fiktive SPD-Abgeordnete Jakob Maria Mierscheid ist 90 geworden.

06.03.2023
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3 Min
Foto: picture-alliance/photothek/Thomas Trutschel

Typischer Hinterbänkler: Der Abgeordnete Jakob Maria Mierscheid lässt sich im Plenarsaal nicht blicken.

Er werde es vermissen, nicht bei den Plenardebatten zu erscheinen. Das schrieb der SPD-Abgeordnete Jakob Maria Mierscheid im März 2020 auf Twitter. Der Grund für die doppelt betonte Abwesenheit? Mutmaßlich die Corona-Pandemie. Mit damals 88 Jahren war dem Sozialdemokraten anscheinend nicht wohl bei der Vorstellung, im überfüllten Hohen Haus virenbelastete Debattenluft zu atmen, irgendwie verständlich. Der Tweet unterstrich ein weiteres Mal, dass Mierscheid kein Freund der Anwesenheitspflicht im Parlament ist. Er besticht mehr durch seine Arbeit im Hintergrund, durch parlamentarische Initiativen, die er per Brief und seit dem digitalen Zeitalter auch über den Kurznachrichtendienst Twitter vorträgt.

Ältestes Mitglied des Bundestages 

90 Jahre alt ist der Sozialdemokrat aus dem beschaulichen Hunsrück am 1. März geworden, und für einen solch hohen Geburtstag eines verdienten Parlamentariers und Genossen bekommt man von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas sogar ein Grußwort samt Videobotschaft. Und eine weitere prominente Genossin, Vize-Bundestagspräsidentin Aydan Özoguz, ehrte Mierscheid am Freitag vor Eintritt in die Tagesordnung mit Geburtstagswünschen.

Mierscheid sei ein "bekennender Hinterbänkler, der viel angestoßen und erreicht hat, ohne auch nur ein einziges Mal bei Markus Lanz gewesen zu sein." Özoguz gratulierte dem "ältesten, wenn auch nicht dienstältesten Mitglied des Bundestages", der leider auch heute nicht im Plenum sein könne, da er zu dringenden Angelegenheiten nach Brüssel habe reisen müssen. Das habe sein Wahlkreis in Morbach mitgeteilt. "Noch heute warten wir auf seine erste Rede im Bundestag", stelle sie fest.

Doch Reden braucht es für Mierscheid ohnehin nicht, um sich ein Denkmal zu setzen. Längst wurde eine prominente Stelle im politischen Berlin nach ihm benannt: Die Brücke, die das Paul-Löbe-Haus über der Spree mit dem Marie-Elisabeth-Lüders-Haus verbindet, heißt - wenn auch inoffiziell - "Mierscheid-Steg".

Sozialdemokrat mit Weitblick

Ein Abgeordneter mit Weitblick, ein echter Sozialdemokrat, ein Arbeiter, dem das Wohl des Volkes am Herzen liegt und der mit seiner politischen Arbeit das Land voranbringen wollte - und noch immer will. Schließlich ist auch nach 44 Jahren als MdB von Ruhestand keine Rede. Wer könnte auch annehmen, dass jemand, der eine Fehlsubventionierungsmietentzerrungsförderungsausgleichsabgabe für öffentlich Beschäftigte forderte und bei der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten eine "Gleichstellung von Arbeitnehmerinnen in Brauereien in Bezug auf Haustrunk" anregte, mit seinem Wirken je am Ende sein könnte?

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Solch ein Weitblick, solch eine Innovationskraft, solch ein Fortschritt im Denken - da ist der gelernte Schneider und Taubenzüchter aus Rheinland-Pfalz wahrscheinlich so manchem Parlamentskollegen und mancher -kollegin voraus. Das weiß wohl auch Bundestagspräsidentin Bas und wünscht sich und Mierschied, "dem guten Geist des Parlaments": "Bleib wie Du bist!" Mierscheid, an dessen Echtheit so viele zweifeln würden, erinnere an etwas wirklich Wichtiges, so Bas: "Daran, dass es in der Politik immer Originale braucht."