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Kapitalismus in der Kritik : Wut auf die Freiheit

Kapitalismuskritik von links ist nichts Neues. Aber die Wirtschaftsordnung der freien Welt gerät zunehmend auch von rechts unter Druck.

30.12.2023
2024-03-04T11:45:09.3600Z
5 Min

Amerika, das Land der Antikapitalisten. Wie bitte? Sind die Vereinigten Staaten nicht die Nation von Ronald Reagan, dem Helden der Republikanischen Partei, der als US-Präsident in den 1980er Jahren wie kaum ein Politiker im 20. Jahrhundert erfolgreich für freie Märkte und globalen Freihandel kämpfte, der Zuwanderung für einen Gewinn hielt und der erheblichen Anteil am Triumph des kapitalistischen Westens über die kommunistische Sowjetunion hatte?

Foto: picture alliance / EPA

Kapitalismuskritik von rechts: Ex-Präsident Donald Trump brach mit vielen Überzeugungen seiner Vorgänger. Unter anderem attackierte er die Welthandelsorganisation.

Unter "Reaganomics" sank der Spitzensteuersatz in den USA zwischen 1980 und 1985 von 46,7 auf 39,2 Prozent. Im Wahlkampf 1980 formulierte Reagan erstmals die Idee für eine nordamerikanische Freihandelszone. Nach seiner Amtszeit 1992 wurde die North American Free-Trade Area (NAFTA) Realität. Als Präsident legte er Grundlagen für multilaterale Handelsabkommen wie die Gründung der Welthandelsorganisation WTO.

30 Jahre später saß ein Präsident der republikanischen Partei im Weißen Haus, der mit Amtsübernahme im Jahr 2017 begann, die WTO handlungsunfähig zu machen, indem er sämtliche Neuernennungen des Appellate Bodys, der Rechtsmittelinstanz der Institution, blockierte. Donald Trump führte Zölle ein auf Produkte der größten amerikanischen Handelspartner, drohte gar mit dem Rückzug der USA aus der WTO. Zugleich wollte er die USA aber von Zuwanderung abschotten, ernannte Richter für den obersten Gerichtshof, die Urteile im Sinne konsequenter Gegner von Abtreibung fällten. 

Der Wohlstand wächst, aber Armut bleibt

Dabei gestehen auch Kritiker zu, dass der Kapitalismus immer größeren Teilen der Menschheit gewaltige Erfolge gebracht hat. Demokratie und Wohlstand, ein längeres Leben, mehr Gleichberechtigung und Bildung sind untrennbar mit jener Wirtschaftsordnung verbunden, die sich in frühen Formen mit dem Beginn der Neuzeit ab dem 15. und 16. Jahrhundert entwickelt hat. Kaufmannsfamilien wie die Medici oder die Fugger gelangten zu Reichtum und politischem Einfluss, obwohl sie nicht zum Adel gehörten. Der alte Feudalismus büßte an Bedeutung ein.

Mit der Industrialisierung erobern kapitalistische Organisationsweisen im 19. Jahrhundert weite Teile der Wirtschaft. Zwischen 1820 und 1913 steigt das reale Bruttosozialprodukt pro Kopf in Deutschland um den Faktor 3,6. Zwischen 1851 und 1911 verdoppelt sich die Produktivität des Faktors Arbeit in der Industrie. Trotzdem kommen Arbeiterfamilien im 19. Jahrhundert vielfach kaum über das Existenzminimum hinaus. Der Zulauf zur Arbeiterbewegung, der Erfolg der Schriften des Antikapitalisten Karl Marx und die Forderung nach Revolution zeugen davon.

Der Theoretiker Karl Marx veröffentlicht 1848 das "Manifest der Kommunistischen Partei" und 1867 mit dem ersten Band von "Das Kapital" eine fundamentale Kapitalismuskritik. Marx hält eine kommunistische Revolution für nötig. Aus seiner Sicht können die Arbeiter nur so an den Erfolgen des Kapitalismus teilhaben. Das Ende des Privateigentums ist sein Ziel. Allen sollte alles gehören.

Warnung vor der populistischen Rechten

Verbindet sich hier klassisch wirtschaftspolitisch linke Politik mit gesellschaftspolitisch höchst konservativer? Dass ein Vertreter einer solchen politischen Richtung die US-Präsidentschaftswahl 2024 für sich entscheidet, ist ein durchaus realistisches Szenario. In Europa koppelte sich Großbritannien bereits 2020 unter einer konservativen Regierung vom großen Freihandelsprojekt des europäischen Binnenmarkts ab, der 1992 in Kraft trat und mit dem Vertrag von Maastricht ab 1993 abgesichert und fortentwickelt werden sollte. "Die wütendste Kritik am globalen Kapitalismus kommt zunehmend von der populistischen Rechten", schrieb der "Economist" im August 2023.

Das zeigt: Die freiheitliche kapitalistische Welt gerät immer stärker unter Druck. Sie wird längst nicht mehr nur von links kritisiert, sondern steckt in die Zange von Linken und Rechten. Obwohl das kapitalistische System großen Teilen der Menschheit einen historisch einmaligen Entwicklungsschub verliehen hat, muss es seit jeher Kritik ertragen, und wird nun zunehmend attackiert.

Kapitalismuskritische Bücher schaffen es in Deutschland regelmäßig in die Bestsellerlisten. Insbesondere der Klimawandel lässt sich demnach nur verhindern, wenn der Staat die Geschicke der Wirtschaft zentral lenkt, anstatt das dezentrale Spiel von Angebot und Nachfrage.

Kommerziell ist nicht immer kapitalistisch

Im 20. Jahrhundert berufen sich in der Sowjetunion, in Osteuropa, in Ostasien und der Karibik kommunistische Regime auf die Ideen des Marxismus. Meist geht ihre Politik einher mit Unfreiheit und brutaler Unterdrückung. Dieser Teil der Welt hinkt dem Lebensstandard der Bevölkerung in den als kapitalistisch bezeichneten Ländern weit hinterher. Gleichwohl sehen sich auch im Westen sozialistische Parteien in der Tradition von Karl Marx, verteidigen aber, wie die Sozialdemokratische Partei in Deutschland, unter teils gewaltigen Opfern zugleich die Ideen von liberaler Demokratie und Parlamentarismus.

Privateigentum und Vertragsfreiheit führen in westlichen Ländern zu Wohlstand. Als "kommerzielle Gesellschaft" bezeichnet der Ökonom Joseph A. Schumpeter in seinem großen Werk "Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie" aus dem Jahr 1947 diese Marktwirtschaften und grenzt sie konzeptionell von der "sozialistischen Gesellschaft" ab. Die kommerzielle Gesellschaft alleine macht für Schumpeter aber noch keine kapitalistische Gesellschaft aus. Kapitalismus ist für ihn eine Unterform der Marktwirtschaft, ein Spezialfall der kommerziellen Gesellschaft.

Kapitalismus definiert Schumpeter durch das zusätzliche "Phänomen der Kreditschöpfung": Unternehmen finanzieren sich über Bankkredite. Dabei wird Geld "geschöpft". Die Unternehmen finanzieren sich also "durch Geld (Noten oder Depositen), das für diesen Zweck fabriziert wird". Insbesondere in Deutschland hatten Banken einen erheblichen Anteil daran, dass es im 19. Jahrhundert zum Prozess der Industrialisierung kam. Daten und empirische Untersuchungen zeigen das insbesondere für die Jahre 1851 bis 1882.

Der Kapitalismus sei "von Natur aus eine Form oder Methode der ökonomischen Veränderung", der "unaufhörlich die alte Struktur zerstört und unaufhörlich eine neue schafft", schreibt Schumpeter. Der Prozess dieser "schöpferischen Zerstörung" sei folglich das für den Kapitalismus wesentliche Faktum.

Nachhaltiger Kapitalismus mit CO2-Preisen

 Die Frage heute lautet, ob sich der Kapitalismus auch zu einer nachhaltigen Wirtschaftsform wandeln kann, insbesondere mit Blick auf die Emission von Treibhausgasen und die sich abzeichnende Erderwärmung mit all ihren negativen Folgen. Die moderne Umweltökonomik sieht im Kapitalismus solange kein Problem, wie Preise nicht nur private Kosten, sondern auch gesellschaftliche spiegeln. Das impliziert Verbrauchssteuern auf umweltschädliche Produkte wie die CO2-Bepreisung in Deutschland und vor allem das europaweite Handelssystem für den CO2-Ausstoß, das ab 2027 auch für die Sektoren Wohnen und Verkehr gelten soll. Die Idee: Umweltschädliche Produkte werden teurer, so dass die Verbraucher auf Alternativen ausweichen und ihr Konsumverhalten verändern. Bestenfalls vereinbaren die Staaten solche Preise für den Ausstoß klimaschädlicher Gase auf globaler Ebene.

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Aber kann eine klimaneutrale Wirtschaft noch wachsen? Können die wachstumshungrigen bevölkerungsreichen Länder der Erde Indien und China sich Klimaneutralität leisten? Die Volksrepublik will bis 2060, der Subkontinent bis 2070 klimaneutral werden. Ist Klimaneutralität möglich, ohne dass das freiheitliche kapitalistische System weiteren Schaden nimmt?

Oder wird das Zeitalter von Freihandel und Marktwirtschaft enden? Für Milton Friedman, den einflussreichen Ökonomen zu Zeiten Ronald Reagans, gehörten "Kapitalismus und Freiheit" zusammen. In seinem Bestseller-Buch mit diesem Titel schrieb er: "Wirtschaftliche Freiheit ist ein unverzichtbares Mittel zur Erreichung der politischen Freiheit." Die Frage steht folglich im Raum: Was bleibt von der Freiheit, wenn der Zangengriff um den Kapitalismus fester wird?