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Verstärkte Bürgerbeteiligung : Mitreden erwünscht

Der große Protest gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 war für viele Kommunen der Auslöser, Bürger stärker an der Erstellung von Bebauungsplänen zu beteiligen.

22.08.2022
2024-03-15T10:46:47.3600Z
6 Min

Das Bürgerinteresse gibt es nicht. Es ist ein Unterschied, ob einem eine Werkhalle vor den Balkon gesetzt werden soll oder ob man einige Straßen weiter wohnt und auf einen guten Job hofft. Um divergierenden Interessen so gut wie möglich gerecht zu werden, schreibt das Baugesetzbuch schon seit Langem die Bürgerbeteiligung bei der Erstellung eines Bebauungsplans vor. Alle Pläne müssen ausgelegt und Einwände geprüft werden. Mittlerweile gehen Kommunen immer öfter über dieses formelle Beteiligungsverfahren hinaus. Als sogenannte informelle Bürgerbeteiligung gelten, wie Jan Strehmann vom Deutschen Städte- und Gemeindebund erläutert, Dialogveranstaltungen im betroffenen Ort oder Stadtteil, um ein Projekt vorzustellen und Feedback einzuholen, Workshops mit bestimmten Zielgruppen und Online-Beteiligungsverfahren, bei denen man Bedenken oder auch Vorschläge einbringen kann. Zunehmend gehe man auch zu Verfahren über, bei denen Menschen nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden, um ihre Meinung einzuholen, berichtet Strehmann. Denn es sei bei der Bürgerbeteiligung immer eine besondere Herausforderung, die Menschen zum Mitmachen zu bewegen, "damit nicht nur die wenigen Lauten gehört werden".

Foto: picture-alliance/dpa/Rainer Jensen

Der Protest gegen den Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs und den damit verbundenen Stadtumbau dauerte Jahre an.

Plattform für die Aufnahme von Meinungen bieten

Gerade bei Vorhaben, die sich auf den Stadtteil oder die Gemeinde auswirkten, etwa durch Emissionen oder zusätzlichen Verkehr, sei es "sehr ratsam für die Entscheider und die Verwaltung, über formale Beteiligungsverfahren hinaus frühzeitig zu informieren und zu konsultieren, Einwände aufzunehmen und nach Möglichkeit auch zu berücksichtigen", sagt Strehmann. Am Ende aber gelte es abzuwägen, "was für die Kommune übergreifend wichtig ist, so dass man den Protest Einzelner vielleicht auch hinnehmen muss, und diese Abwägung treffen gewählte politische Vertreter". Denn: "Jedes Kommunalparlament repräsentiert ja auch die Bürgerinnen und Bürger." Damit die gewählten Vertreter aber eine sachliche Entscheidung treffen können, sei es wichtig, zuvor eine Plattform für die Aufnahme von Meinungen zu bieten.

Foto: Bernhardt Link - Farbtonwerk
Jan Strehmann
ist Referatsleiter im Deutschen Städte- und Gemeindebund.
Foto: Bernhardt Link - Farbtonwerk

Nach Strehmanns Beobachtung waren die Proteste gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 im Jahr 2010 für viele Kommunen bundesweit ein Auslöser, informelle Beteiligungsverfahren zu stärken. Stuttgart 21 war ein Paradebeispiel für das, was die Wissenschaft Beteiligungs-Paradoxon nennt: Ein Projekt wird jahrelang vorbereitet, die Medien berichten auch, aber obwohl sich Projekte in ihrer frühen Phase noch am ehesten beeinflussen lassen, interessiert sich kaum jemand sonderlich dafür. Erst wenn das Projekt so weit fortgeschritten ist, dass sich nur noch schwer etwas ändern lässt, wächst der Wunsch nach Beteiligung gewaltig, werden Bürger zu "Wutbürgern". Die Verantwortlichen in den Kommunen haben daraus gelernt. Manche Großstädte, berichtet Strehmann, hätten heute richtige Stabsstellen, die anderen Verwaltungen dabei helfen, ihre Vorhaben zu kommunizieren und Beteiligungen zu organisieren. In kleinen Gemeinden sei man näher beim Bürgermeister, da seien nicht so aufwendige Formate nötig.

250 Zuschriften, Rückfragen und Hinweise aus der Bürgerschaft

Gelernt aus Stuttgart 21 hat auch die Deutsche Bahn. Sie will im Raum Nürnberg ein großes ICE-Instandhaltungswerk mit rund 450 Arbeitsplätzen bauen. Die Züge sollen dort gewartet, gereinigt und repariert werden. Im Herbst 2020 gab die Bahn die Pläne bekannt und auch die erwogenen genauen Standorte, darunter den bevorzugten direkt an der südöstlichen Stadtgrenze zwischen Nürnberg-Altenfurt und Fischbach. Dieser Standort läge allerdings im Reichswald, zehntausende Bäume müssten gefällt werden. Zwar würde die Bahn andernorts Ausgleichsflächen aufforsten, dennoch erhob sich sofort Protest. Daraufhin nahmen auch Nürnbergs Oberbürgermeister Marcus König (CSU) und der aus Nürnberg kommende bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU), die beide das Vorhaben an sich begrüßen, gegen den Standort Stellung. Im September 2021 ließ die Bahn schließlich Altenfurt/Fischbach und fünf weitere Standorte fallen. Von den drei verbliebenen sind zwei bei Feucht südlich von Nürnberg und einer noch ein Stück weiter südlich bei Allersberg. Auch diese drei Flächen liegen allerdings im Reichswald. Der Bund Naturschutz in Bayern schlug deshalb einen Alternativ-Standort auf einer Industriebrache am Nürnberger Hafen vor, den die Bahn nach eigenen Angaben intensiv prüfte, aber vor allem aus Platzgründen verwarf.


„Jedes Kommunalparlament repräsentiert ja auch die Bürgerinnen und Bürger.“
Jan Strehmann, Deutscher Städte- und Gemeindebund

Seit Bekanntgabe des Vorhabens hat Projektleiter Carsten Burmeister zahlreiche Informationsveranstaltungen durchgeführt. "Mit ruhig und sachlich vorgetragenen Argumenten drang Burmeister selten durch", berichtete die "Süddeutsche Zeitung", "weil sie kaum einer hören wollte. Was er vortrug, wurde reflexartig bezweifelt - oder gleich als falsch deklariert." Die Informationsveranstaltungen gingen auch weiter, nachdem die Bahn im Februar die Unterlagen für das Raumordnungsverfahren zu den drei verbliebenen Standorten bei der Regierung von Mittelfranken eingereicht hatte. In die 2.000 Seiten umfassenden Antragsunterlagen sind nach Angaben der Bahn rund 250 Zuschriften, Rückfragen und Hinweise aus der Bürgerschaft eingeflossen. Im Raumordnungsverfahren konnten vom 4. Mai bis 30. Juni erneut betroffene Kommunen, Behörden, Verbände und Bürger Stellung nehmen. Anschließend im Planfeststellungsverfahren für den letztlich verbliebenen Standort wird es noch einmal eine Bürgerbeteiligung geben. Egal wie die Entscheidung am Ende fällt, nicht alle werden sich damit abfinden. In den Informationsversammlungen sind schon massive Proteste angekündigt worden.

Über Gemeindegrenzen hinweg

Dass es auch anders geht, dafür gibt es ein Beispiel im benachbarten Baden-Württemberg. Dort, in Weilheim an der Teck, wird Cellcentric, ein Gemeinschaftsunternehmen von Daimler-Benz und Volvo, Brennstoffzellen für elektrisch angetriebene Schwerlastwagen herstellen. Die Bürgerschaft von Weilheim hat dem zugestimmt. Zuvor allerdings hatten sich im nahegelegenen Dettingen bei einem Bürgerentscheid 62 Prozent gegen die Ansiedelung entschieden. Als das Unternehmen daraufhin das Weilheimer Rosenloh ins Auge fasste, formierte sich auch dort Widerstand. Eine "Initiative Rosenloh" machte sich für den Erhalt der Äcker und Wiesen stark und forderte, stattdessen eine Industriebrache zu nutzen, die sich aus Sicht von Cellcentric allerdings nicht für das Vorhaben eignet.

Ende letzten Jahres führte Weilheim ein Verfahren der "Dialogischen Bürgerbeteiligung" durch, wie es ein Anfang 2021 in Kraft getretenes Landesgesetz vorsieht, wenn auch nicht vorschreibt. Es ist das erste Gesetz dieser Art in Deutschland. Die Teilnehmer an diesen Verfahren werden nach dem Zufallsprinzip aus dem Melderegister ausgewählt, wobei trotzdem auf eine möglichst repräsentative Verteilung geachtet wird. Die so geschaffene Gruppe wird von Interessenvertretern sowie unabhängigen Experten ausführlich informiert, sie diskutiert darüber und spricht am Ende Empfehlungen aus.

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Trotz dieses Verfahrens aber sammelte die Initiative Rosenloh Unterschriften für ein Bürgerbegehren mit dem Ziel eines Bürgerentscheids. Dem kam der Gemeinderat zuvor und beschloss von sich aus einen Bürgerentscheid. Dieser fand im April statt und endete mit 70,1 Prozent für das neue Gewerbegebiet, bei beachtlichen 60,7 Prozent Wahlbeteiligung. Dass die Weilheimer so anders entschieden haben als zuvor die Dettinger, könnte auch damit zu tun haben, dass der örtliche Wahlkreisabgeordnete und Fraktionsvorsitzende der Grünen im Stuttgarter Landtag, Andreas Schwarz, sich hinter das Projekt stellte und Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) wenige Tage vor dem Bürgerentscheid in Weilheim für ein Ja warb.

Verfahren könnte Kommunen überfordern

Christoph Nold, leitender Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) im Bezirk Esslingen-Nürtingen, hat die Bürgerbeteiligung in Weilheim begleitet. Vor dem Hintergrund gefährdeter Wertschöpfungsketten in seiner industriegeprägten Region sieht er mit Sorge, dass in den letzten zwei Jahren nur knapp die Hälfte der Bürgerentscheide pro Standort ausgegangen sei. Die anderen Vorhaben seien "am Willen der Bürger gescheitert, die am liebsten den Status Quo festnageln würden", bedauert Nold. Verbündete finde die IHK in den Gewerkschaften, mit denen man sich gemeinsam auf die Expertenanhörungen im Rahmen der Bürgerbeteiligung vorbereite und die dasselbe Interesse an funktionierenden Wertschöpfungsketten hätten. "Da passt kein Blatt Papier dazwischen", freut sich Nold.

In der qualifizierten Bürgerbeteiligung nach dem neuen Landesgesetz sieht Nold "definitiv einen Mehrwert", auch wenn es ein aufwendiges Verfahren sei, das kleine Kommunen überfordern könne. Vertreter von Einzelinteressen verlören dadurch "ein Stück weit ihre Deutungshoheit". Allerdings kritisiert Nold, dass auch nach einer qualifizierten Bürgerbeteiligung immer noch Einzelinteressen über einen Bürgerentscheid den Gemeinderat ausbremsen können. Baden-Württemberg habe es bei Einführung dieses Gesetzes "versäumt, da einen Riegel vorzuschieben". Im offiziellen Beteiligungsportal Baden-Württemberg heißt es dazu passend: "Bei Direkter Demokratie geht es am Ende darum, dass sich eine Seite per Mehrheit durchsetzt. Bei Dialogischer Bürgerbeteiligung geht es darum, zu einer ausgewogenen Lösung zu kommen."