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Dritter Premier-Rücktritt binnen eines Jahres : Frankreich sucht einen Weg aus der politischen Krise

Ein Aussetzen von Präsident Macrons umstrittener Rentenreform könnte Neuwahlen verhindern. Doch das käme das hochverschuldete Frankreich teuer zu stehen.

10.10.2025
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4 Min

Sébastien Lecornu wirkte erstaunlich entspannt, als er am Mittwochabend im Studio des Fernsehsenders France 2 saß. Zwei Tage lang hatte der scheidende französische Regierungschef mit Vertreterinnen und Vertretern der Parteien diskutiert, um nach seinem Rücktritt am Montag einen Ausweg aus der politischen Krise zu finden. "Ich betrachte meine Mission als beendet", verkündete Lecornu nach seinen Sondierungen, mit denen Präsident Emmanuel Macron ihn beauftragt hatte.

Die Gespräche ergaben allerdings nur eine vage Übereinstimmung darüber, dass eine "absolute Mehrheit" seiner Gesprächspartner eine Auflösung der Nationalversammlung ablehnt. Stattdessen sollte Macron bis Freitagabend einen neuen Premierminister ernennen - den vierten in einem Jahr. "Wenn wir diesen Schritt verpassen, dann war das wirklich die letzte Chance", warnte Regierungssprecherin Aurore Bergé.

Foto: picture alliance / SIPA

Frankreichs scheidender Regierungschef Sébastien Lecornu (rechts) zeigte sich am Mittwoch bei einem Fernsehinterview optimistisch, dass Präsident Emmanuel Macron binnen 48 Stunden einen neuen Premier ernennen wird. Es wäre bereits der vierte in einem Jahr.

Lecornu hatte am Montag nach nicht einmal einem Monat im Amt das Handtuch geworfen. Er reagierte damit auf die Kritik an seiner Kabinettsliste, die er am Vorabend präsentiert hatte. Obwohl der Macron-Vertraute Anfang September einen "Bruch" versprochen hatte, übernahm er die meisten Ministerinnen und Minister seines Vorgängers François Bayrou.

Erste Parlamentskammer ist in drei etwa gleich große Lager gespalten

Noch am Sonntagabend wandte sich der Chef der Konservativen, Bruno Retailleau, von Lecornu ab. Er war verärgert darüber, dass mit Bruno Le Maire ausgerechnet der Mann Verteidigungsminister werden sollte, der für den riesigen Schuldenberg Frankreichs verantwortlich gemacht wird. Lecornu habe diese Entscheidung vor ihm geheim gehalten, sagte Retailleau in einem Fernsehinterview.

Rückblick

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Das Lager der Mitte ist auf die Konservativen angewiesen. Denn seit den Neuwahlen, die Macron im vergangenen Jahr überraschend angesetzt hatte, ist die erste Parlamentskammer in drei etwa gleich große Lager gespalten: Rechtspopulisten, Linksbündnis und Mitte. Der "gemeinsame Sockel", dem neben dem Präsidentenlager auch die Konservativen angehören, hat nur 210 Abgeordnete in der 577 Parlamentarier zählenden Nationalversammlung.

Rechtspopulisten könnten bei Neuwahlen stärkste Kraft werden

Tonangebend ist dort die größte Oppositionspartei, der rechtspopulistische Rassemblement National (RN). Fraktionschefin Marine Le Pen machte nach dem Rücktritt Lecornus klar, dass sie jeden seiner Nachfolger stürzen werde, bis Neuwahlen angesetzt würden. "Es reicht jetzt mit den Späßchen." Ihre Partei dürfte laut Umfragen bei Neuwahlen mit 33 Prozent die stärkste Kraft im Parlament werden. Verlierer wäre das Lager Macrons, das nur auf 15 bis 16 Prozent käme. Die Konservativen würden bei zehn Prozent landen und das zerstrittene linke Lager bei 26 Prozent. Le Pen selbst könnte bei vorgezogenen Parlamentswahlen nicht antreten, da ein Gericht sie im Frühjahr wegen Veruntreuung von EU-Geldern zur Unwählbarkeit verurteilt hatte. Der Berufungsprozess beginnt Anfang nächsten Jahres.

Vorerst scheinen Neuwahlen aber abgewendet zu sein. Mehrere Parteien seien bereit, sich auf einen Haushalt für das nächste Jahr zu verständigen, sagte Lecornu. Nicht dabei sind neben dem RN auch die Linksaußenpartei La France Insoumise (LFI), die einen Rücktritt Macrons fordert.


„Wir können das nicht weiterführen, was wir seit sechs Monaten erleben.“
Frankreichs früherer Premierminister Edouard Philippe

Das Budget ist die dringendste Aufgabe einer neuen Regierung. Damit es zum Jahresende verabschiedet werden kann, muss es spätestens am Montag im Kabinett vorgestellt werden.

Frankreich ist hochverschuldet und müsste dringend sparen

Frankreich hat mit 3,4 Billionen Euro die höchsten Schulden in der EU. Lecornus Vorgänger Bayrou hatte deshalb Einsparungen von 44 Milliarden Euro vorgeschlagen und dazu auch die Streichung von zwei Feiertagen in Aussicht gestellt.

Lecornu nahm die umstrittene Maßnahme wieder zurück und zeigte sich auch beim Haushaltsdefizit weniger ambitioniert. Gleichzeitig kündigte er in einer Geste an die Sozialisten an, auf die Nutzung des Verfassungsartikels 49.3 zu verzichten, der es der Regierung ermöglicht, ein Gesetz ohne Votum im Parlament zu verabschieden. Er hoffte, dadurch die Kompromisskultur in der Nationalversammlung zu stärken. "Was uns fehlt, ist die Fähigkeit, einen Kompromiss zu schmieden", räumte er nach dem Scheitern seiner Bemühungen ein.

Forderung nach einer neuen Debatte über die Rentenreform werden laut

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Besonders hoch legten die Sozialisten in den Gesprächen die Latte. Obwohl sie nur 66 Abgeordnete stellen, beanspruchten sie das Amt des Premiers für sich. Falls ihnen das verweigert wird, könnten sie unter Bedingungen eine neue Regierung dulden. Wichtigster Punkt ist für sie dabei die Aussetzung der umstrittenen Rentenreform. Die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre, gegen die 2023 Millionen Menschen auf die Straße gingen, ist das Herzstück von Macrons Reformpolitik.

Lange Zeit galt die Maßnahme, die mithilfe des Artikels 49.3 verabschiedet wurde, als tabu. Doch das scheint sich zu ändern. "Ich habe dem Präsidenten gesagt, dass die Debatte über die Rentenreform wieder eröffnet werden muss", sagte Lecornu. Er warnte allerdings vor den Kosten, die ein Pausieren der Reform verursachen würde: Der Rechnungshof rechnet bis 2035 mit 13 Milliarden Euro.

Dass Präsident Macron nun bereit ist, sein Paradeprojekt anzutasten, zeigt, wie isoliert er ist. Diese Woche wandten sich mit Gabriel Attal und Edouard Philippe gleich zwei ehemalige Premierminister von ihm ab. Attal gestand, er verstehe die Entscheidungen des Präsidenten nicht mehr. Philippe ging noch weiter und forderte in einem Radiointerview den Rücktritt des Staatschefs, nachdem der Haushalt für das nächste Jahr verabschiedet wurde. "Wir können das nicht weiterführen, was wir seit sechs Monaten erleben. Weitere 18 Monate sind viel zu lang und das schadet Frankreich.”

Die Autorin ist freie Korrespondentin in Paris.

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