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Europäische Demokratie : Großer Reformbedarf

Die Europawahl besteht aus 27 Wahlgängen nach nationalen Regeln. In den EU-Mitgliedsstaaten fehlt es an politischem Willen, das Verfahren zu verbessern.

24.05.2024
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4 Min
Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentral

Bei der Europawahl sind allein in Deutschland fast 65 Millionen Menschen wahlberechtigt. Dabei ist das Wahlrecht in den 27 Mitgliedsstaaten unterschiedlich ausgestaltet.

Schon das Datum ist aufschlussreich. Zwischen dem 6. und 9. Juni werden die EU-Bürger bei der Europawahl ihre Stimme abgeben. Den Auftakt machen die Niederländer an einem Donnerstag, es folgen die Iren am Freitag. Lettland, Malta und die Slowakei stimmen am Samstag ab. In Deutschland und allen andern Ländern wird dann am Sonntag gewählt. Das gestaffelte Verfahren zeigt: In Wirklichkeit findet nicht ein Urnengang statt, sondern 27 nationale Abstimmungen - nach weitgehend nationalen Regeln.

45 Jahre nach der ersten Direktwahl der Europa-Abgeordneten 1979 läuft die Abstimmung in den EU-Staaten höchst unterschiedlich ab. Zögerliche Reformversuche haben daran wenig geändert. "In den vergangenen 20 Jahren hat es wenig Bewegung in Richtung eines einheitlichen Wahlmodus gegeben", resümiert Luise Quarisch vom Jacques Delors Centre in Berlin.

EU-Parlamentarier sehen Änderungsbedarf

Die Hürden zu einem verbesserten, einheitlichen Verfahren sind hoch: Alle 27 EU-Staaten müssten zustimmen, ebenso das Europäische Parlament (EP). Und der politische Wille für eine grundlegende Reform fehlt in den nationalen Hauptstädten. Die etablierten Parteien profitieren vom bestehenden System und messen den demokratischen Defiziten offenbar keine große Bedeutung bei.

Die Europa-Abgeordneten selbst sehen Bedarf für Anpassungen. 2022 stimmten sie mehrheitlich für eine Generalüberholung der Regeln. Sie forderten den 9. Mai, den Schuman Tag, als einheitliches Wahldatum in der gesamten EU. Sie machen sich dafür stark, dass Menschen einheitlich ab einem Alter von 18 Jahren für das EU-Parlament kandidieren dürfen. Sie setzen sich zudem dafür ein, dass sich Männer und Frauen auf den Listen der Parteien abwechseln. In einzelnen Ländern waren Frauen im EP stark unterrepräsentiert. Zypern entsandte zeitweise nur Männer, ehe 2022 eine Christdemokratin nachrückte.


„Die Mitgliedstaaten wollen sich nicht hineinreden lassen.“
Damian Boeselager, EU-Abgeordneter (Volt)

Zwei Änderungswünsche der EU-Abgeordneten stießen bei den nationalen Regierungen auf besonders wenig Zustimmung: Das Spitzenkandidatenprinzip und die Wahl von 28 Europa-Abgeordneten über europäische Listen.

EP könnte Untätigkeitsklage gegen den Rat der EU einleiten

Offiziell äußerten sich die Mitgliedstaaten zu den Reformwünschen nicht. Das EP könnte daher eine Untätigkeitsklage gegen den Rat der EU einleiten. Passiert ist das nicht. Die passive Haltung der EU-Staaten hat mit Machterhalt zu tun. "Die Mitgliedstaaten wollen sich nicht hineinreden lassen", sagt der EU-Abgeordnete Damian Boeselager von der paneuropäischen Partei Volt.

Das Spitzenkandidatenprinzip und die Zweitstimme für Kandidaten von einer europäischen Liste illustrieren das besonders deutlich. Die Staats- und Regierungschefs wollen sich das Recht vorbehalten, den Kommissionspräsidenten in einem Hinterzimmerdeal selbst zu bestimmen. Wahlsieger Manfred Weber (CSU) hatte sich 2019 schon im Berlaymont gewähnt, aber der französische Präsident Emmanuel Macron lehnte ihn ab und installierte stattdessen Ursula von der Leyen (CDU). Damit kam eine Politikerin aus der europäischen Parteienfamilie mit der stärksten Fraktion im EP an die Spitze der EU-Kommission, ohne Wahlkampf geführt zu haben. Auch diesmal tritt sie bei der Europawahl nicht an, führt aber den Titel der EVP-Spitzenkandidatin.

Eine europäische Liste hätte Konkurrenz geschaffen

Die transeuropäische Liste für die Europawahl hat der französische Präsident Macron dagegen als einer der wenigen Staats- und Regierungschefs befürwortet. 2017 hatte Macron angeregt, die EP-Sitze, die durch den Brexit frei würden, über eine gemeinsame europäische Liste zu verteilen. Dadurch sollte ein wirklich europäischer Wahlkampf entstehen, eine gemeinsame Debatte über Entscheidungen, die in der EU fallen. In der Realität spielen bei der Europawahl in den Mitgliedstaaten EU-Themen oft kaum mehr eine Rolle. Eine europäische Liste hätte aber Konkurrenz zu nationalen Parteien geschaffen. Vor allem die europäischen Christdemokraten sehen die Idee skeptisch.

Mit Elan haben die etablierten Parteien dagegen die Einführung einer Mindestklausel betrieben. 2014 hatte Frank-Walter Steinmeier (SPD), damals noch Außenminister, offen seinen Unmut gezeigt, dass der Satiriker Martin Sonneborn ins EP einzog und ankündigte, sein Mandat nach einem Monat niederzulegen. Steinmeier sah die "Juxpartei" Sonneborns als Anlass, eine Sperrklausel einzuführen. Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen hat dies mit Nachdruck verhandelt bei der Wahlrechtsreform 2018. Bei der Europawahl 2029 wird es in Deutschland nun eine Zweiprozenthürde geben, wie der Bundestag vergangenes Jahr beschloss.

In Frankreich müssen Kandidaten Stimmzettel selbst drucken

Insgesamt entsteht der Eindruck, dass etablierte Parteien das Feld nicht für Neuankömmlinge öffnen wollen. "Sie reagieren extrem allergisch auf Wettbewerb", sagt der EU-Abgeordnete Damian Boeselager. Bei den Vorbereitungen der Europawahl 2024 beobachten die Mitglieder seiner Volt-Partei erneut, wie schwierig es ist, Kandidaten überhaupt nur aufzustellen - auch weil die Regeln national so unterschiedlich gestaltet sind. In Deutschland ist es noch relativ einfach, als Kandidat bei der Europawahl anzutreten, Unterschriften von 0,01 Prozent der Wahlbevölkerung genügen. In Italien benötigen Parteien, die noch nicht im Parlament vertreten sind, dagegen gleich 54 Mal so viele Unterschriften. Und in Frankreich müssen Kandidaten Stimmzettel selbst drucken. Die Kosten dafür stellen einen klaren Nachteil für kleine Parteien dar. Volt hat sich in Frankreich von einer Spedition einen Kostenvoranschlag für die Logistik machen lassen. "Der Preis lag bei einer Million Euro", sagt Boeselager.

Über solche Probleme reden die etablierten Parteien nicht gerne. Dabei würden Reformen die europäische Demokratie stärken. Die Fehler im System machen es aktuell den Kritikern leicht, die EU als undemokratisch abzustempeln. Erschwerend kommt hinzu, dass Europa-Abgeordnete je nach Land unterschiedlich viele Wähler vertreten. Deutschland mit fast 85 Millionen Einwohnern stellt 96 Abgeordnete, Malta mit einer halben Million Einwohner stellt sechs Abgeordnete.

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Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Brüssel.