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Russlands Besetzung der Krim 2014 : Vorboten der Zäsur

Vor zehn Jahren besetzte Russland die Krim und entfachte einen Bürgerkrieg im Osten des Landes. Die ganze Tragweite dieses Vorgangs wurde lange nicht gesehen.

22.02.2024
2024-02-23T11:02:05.3600Z
5 Min
Foto: picture alliance/dpa/Jakubi Kaminski

Soldaten der russischen Streitkräfte ohne Hoheitszeichen bedrängen ukrainische Soldaten während eines Angriffs auf den ukrainischen Luftwaffenstützpunkt Belbek am 22. März 2014.

Es kann eigentlich nicht die Rede davon sein, dass der damalige russische Premier die Welt im Unklaren gelassen habe. "Wenn die Ukraine der Nato beitritt, dann wird sie das ohne die Krim und den Osten tun": Diesen Satz ließ Wladimir Putin fallen. 2009 war das, kurz nachdem auf dem Nato-Gipfel in Bukarest auf Betreiben der USA die Weichen gestellt werden sollten für eine Annäherung der Ukraine an das westliche Bündnis und insbesondere Deutschland und Frankreich eben diese Weichenstellung verhinderten hatten.

Knapp fünf Jahre darauf ließ Putin als nunmehr wieder russischer Präsident seinen Worten Taten folgen: Im Februar 2014 mit einer verdeckten militärischen Operation zur "Wiedervereinigung" der ukrainischen Halbinsel Krim mit Russland und sodann und fortan mit dem klandestinen Anfeuern eines Bürgerkriegs im Osten der Ukraine. Beide Ereignisse, die sich nun zum zehnten Mal jähren, gelten heute als lange Zeit missverstandene Vorboten einer noch viel tieferen Zäsur, des russischen Überfalls auf die Ukraine auf ganzer Front am 24. Februar 2022. Hundertausenden Menschen, Soldaten wie Zivilisten, kostete dieser Krieg bisher das Leben, weiteren Hundertausende die körperliche und seelische Gesundheit, Millionen für lange Zeit die Heimat. Wenn er etwas bereue, so sagte das Russlands Präsident in diesen Tagen, dann die Tatsache, dass er nicht schon früher den Marschbefehl für die Invasion gegeben habe, die in seinem Wortlaut "Aktion" und in Russland unter Strafandrohung nur "militärische Spezialoperation" zu heißen hat.

Russlands Besetzung der Krim war eine klare Absage an die Friedensordnung nach 1989

Im Rückblick lag 2014 bereits offen auf dem Tisch, was westliche Staaten in den Tagen rund um den 22. Februar 2022 dann so erschüttern sollte: Ein klarer Kriegsakt und die Absage der Friedensordnung nach 1989 durch Russland, die Aufkündigung der Charta von Paris und die Absage an die Übereinkunft, dass in Europa keine Grenzen mit militärischer Gewalt verschoben werden sollen, die Absage übrigens auch des Budapester Memorandums von 1994, mit dem unter anderem Russland die Souveränität und Sicherheit der Ukraine garantiert hatte, wofür diese im Gegenzug auf Atomwaffen aus sowjetischer Zeit auf ihrem Terrirtorium verzichtet hatte.

Doch ging es 2014 aus russischer Sicht mit dem Zangenangriff auf die Krim und die Ostukraine offensichtlich nicht nur um ein Stoppschild gegen eine vermeintliche Nato-Einkreisung. Die Moskauer Verachtung des Aufstands der Ukrainer gegen den Zickzack-Kurs des prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch, die Bezeichnung der ukrainischen "Revolution der Würde" als "faschistischen Putsch", lässt auf eine existenziellere Bedrohungswahrnehmung im russischen Machtapparat schließen. Eine Ukraine, die sich spätestens 2014 auf den Weg gemacht hatte ein demokratisches, ein "normales" europäisches Land zu werden, in dem die Regierenden in freien Wahlen Rechenschaft abzulegen haben und Oppositionelle nicht in Straflagern verschwinden: Ein solcher Nachbar bereitete dem Kreml offenbar Kopfzerbrechen. Der Revanchismus des Systems Putins werde "von Hass, Eitelkeit, Komplexen gegenüber der freien Welt genährt", so hat das der FDP-Abgeordnete Ulrich Lechte jüngst im Bundestag gekennzeichnet.


„Wir müssen aufhören, uns als Zentrum der Welt zu sehen, als Quelle ihrer Spiritualität.“
Mikhail Zygar, russischer Journalist

Es ist freilich ein Revanchismus, der in der sonst so atomisiert wirkenden russischen Gesellschaft durchaus verfängt. Das zeigen die Zustimmungsraten in der Bevölkerung für Putin unmittelbar nach der Annexion der Krim, die in russischer Selbstwahrnehmung ja immer ein Sehnsuchtsort war: (Umstrittener) Ort der Taufe des heiligen Fürsten Wladimir, Krönung des russischen Zivilisationsprojekts beim Zurückdrängen Osmanischer Herrschaft seit dem 18. Jahrhundert, später ein sowjetisches Pionierlager- und Erholungsheim-Elysium mit Sewastopol als Stützpunkt der traditionsreichen Schwarzmeerflotte.

Die Halbinsel ist aber eben auch ein Symbol russischer imperialer Illusionen und propagandistischer Verrenkungen, wie das Reden von der schon "immer russischen Krim" zeigt, die Sowjetführer Chruschtschow 1954 für ein Apfel und ein Ei verschenkt habe: Davon zeugen die Vertreibungen, Umsiedlungen, Deportationen der Krimtataren über die Jahrhunderte. "Wir müssen aufhören zu glauben, dass wir etwas Besonderes sind, aufhören uns als Zentrum der Welt zu sehen, als ihr Gewissen, ihre Quelle der Spiritualität", so hat es der russische Journalist Mikhail Zygar seinen Landsleuten in Gewissen geschrieben: "Das ist alles Blödsinn."

Aus dem Lehrbuch der Geheimdienste: Tricksen, Tarnen, Täuschen 

Krim-Annexion und der Krieg in der Ostukraine stehen auch für ein Vorgehen, das aus dem Lehrbuch der Geheimdienste im Kalten Kriegs stammt. Neben den Waffen für ukrainische (und wohl auch aus Russland eingeschleuste) Separatisten in der Ostukraine ließ der Kreml ein ganzes Arsenal an Kniffen aufziehen: Tricksen, Tarnen, Täuschen, das Unabweisbare abstreiten, das Evidente leugnen, eigene Verbrechen der Gegenseite unterstellen - das war beim Aufzug der verharmlosend als "grüne Männchen" bezeichneten russischen Soldaten auf der Krim so, bei den Schein-Referenden unter Waffen auf der Krim 2014 und in der Ostukraine 2023, bei den "Hilfskonvois" getauften russischen Lkw-Schlangen, die die Grenze zur Ukraine nach 2014 unkontrolliert passierten und die Separatisten-Milizen erreichten. Es galt auch im Falle des Abschusses des zivilen Malaysia-Airlines-Flugs 17 über der Ostukraine, den russische Vertreter der ukrainischen Seite in die Schuhe schieben wollten. Russland weist eine Verantwortung oder auch nur Mit-Verantwortung für dieses Kriegsverbrechen bis heute zurück, obwohl die Beweise eines internationalen Ermittlungsteams eine andere Sprache sprechen. Gleiches gilt für die Opfer der Massaker im zwischenzeitlich russisch besetzten Butscha vor den Toren Kiews 2022. Die Toten wurden vom russischen Außenminister Sergej Lawrow als "Provokation von ukrainischen Radikalen" verhöhnt.

Ob 2014 auf der Krim oder im Osten der Ukraine seit 2022, die Propaganda des Kremls folgt einem bekannten Drehbuch: Es gehe um die Wünsche der russischsprachigen Bewohner, um die Durchsetzung ihrer legitimen Rechte gegen eine US- und EU-animierten Westkurses des Landes, es gehe darum, Nato-Stützpunkte nahe der russischen Grenze und damit ein noch viel größere Blutvergießen zu verhindern: Hybris eines autoritären russischen Systems, das imperiale Ausdehnung beansprucht, und gleichzeitig um seine Existenz fürchtet und sich dabei im Besitz ungetrübter Rechtschaffenheit glaubt.

Deutschland setzte auf eine fatale und teure Doppelstrategie

Deutschland hat nach 2014 auf eine Doppelstrategie gesetzt. Einerseits machte sich die Bundesregierung für eine diplomatische Konfliktlösung unter Beteiligung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa stark. Dafür stehen die beiden Abkommen von Minsk, die eine Entflechtung an der Konfliktgrenze, den Abzug schwerer Waffen, freie Wahlen und Autonomierechte für die Gebiete Donezk und Lugansk vorsahen. Und auf der anderen Seite setzte man in Berlin auf eine weitere handels- und energiepolitische Verflechtung mit Russland. Dafür steht die Gasleitung Nord-Stream II, für die sich die Bundesregierungen unter Angela Merkel (CDU) und anfangs auch unter Olaf Scholz (SPD) gegen viele Widerstände ins Zeug legten. Ein Irrtum, mit dem sich Deutschland spätestens mit der russischen Invasion in der Ukraine 2022 in eine teure energie- und sicherheitspolitische Sackgasse manövriert hatte. Und ein fatales Signal an Putin, dass sein Landraub am Ende schon keinen Preis haben werde.

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Wie eine Nachkriegsordnung aussehen könnte, ist nicht absehbar, das Ausbleiben strategischer westlicher Überlegungen dazu steht ebenso in der Kritik, wie es wechselseitige Schuldzuweisungen für Ergebnislosigkeit oder das Abtropfenlassen diplomatischer Initiativen gibt.

Einen Hinweis hat der Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski bereits 2022 gegeben. Der Westen könne und dürfe die Ukrainer nicht fallen lassen. Es werde aber darauf ankommen, eine "Nachkriegsordnung zu schaffen, die es Russland erleichtert, sich vom Imperium zu verabschieden". Erst wenn niemand mehr daran glaube, dass der Westen Russland einkreisen und zerstören wolle, werde es in Russland Veränderungen geben können.