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Vorsitzende des Zentral­rats der Jesiden : Fünf Fragen zur: Aufarbeitung des Genozids an den Jesiden

Der Bundestag hat die IS-Verbrechen an den Jesiden als Völkermord eingestuft. Eine Entscheidung mit breiter Signalwirkung, findet Zemfira Dlovani.

23.01.2023
2024-02-26T15:20:52.3600Z
2 Min
Foto: Zemfira Dlovani

Zemfira Dlovani ist seit Juni 2021 Vorsitzende des Zentral­rats der Jesiden in Deutschland. Die gebürtige Armenierin arbeitet als Rechtsanwältin für Sozialrecht in ihrer eigenen Kanzlei in Koblenz.

#1

Frau Dlovani, der Bundestag hat die Verbrechen des IS an den Jesiden als Völkermord eingestuft. Was bedeutet diese Anerkennung?

Zemfira Dlovani: Sie ist ein enorm starkes, wichtiges Zeichen für die Jesiden in Deutschland. Dass das Parlament den Genozid anerkennt, gibt den Opfern Genugtuung und hilft ihnen, das Erlebte psychisch zu verarbeiten. Aber es spielt auch für die Strafverfolgung eine wichtige Rolle.

#2

Inwiefern? 2021 hat das Oberlandesgericht Frankfurt doch bereits als erstes Gericht weltweit einen IS-Anhänger wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt.

Zemfira Dlovani: Richtig. Damit wurden die juristischen Voraussetzungen anerkannt und der Völkermord rechtlich bestätigt. Die politische Anerkennung könnte aber dazu beitragen, die hohen Hürden für eine Anklageerhebung zu senken. Gerichten könnte dann schon der Nachweis einer IS-Mitgliedschaft reichen, um eine Klage zuzulassen.

#3

In Deutschland gab es seit 2021 noch zwei weitere Urteile. In Koblenz hat gerade ein Prozess gegen eine mutmaßliche IS-Anhängerin begonnen. Gibt es solche Fälle auch in anderen Ländern? Die Möglichkeit der Verhandlung vor dem Internationalen Strafgerichtshof existiert nicht, weil der Irak dessen Gründungsstatut nie ratifiziert hat.

Zemfira Dlovani: Ja, leider. Politisch haben einige Staaten den Völkermord inzwischen anerkannt, in Europa etwa Großbritannien, die Niederlande oder Belgien. Auch die USA, Kanada und Australien sind diesen Schritt gegangen. Rechtlich sieht die Lage anders aus: Abgesehen von den Prozessen in Deutschland sind mir keine weiteren bekannt. Die Anwendung des Weltrechtsprinzips durch das Frankfurter Gericht in einem solchen Fall war ein echtes Novum.

#4

Wie kommt die Aufarbeitung im Irak voran?

Zemfira Dlovani: Nur sehr schleppend. Zwar helfen einzelne NGO mit speziellen Programmen und seit 2021 gibt es ein Gesetz, das Opfern des Genozids Schadensersatz zusichert – de facto ist es aber noch nie angewendet worden. Die fehlende Aufarbeitung der Verbrechen ist ein Problem. Hoffnungen setzten wir vor allem in Unitad, das Untersuchungsteam der Vereinten Nationen zur Förderung der Rechenschaftspflicht für vom IS begangene Taten, dass es dem irakischen Staat hilft, die nötigen Strukturen aufzubauen. 

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#5

Rund 300.000 geflüchtete Jesiden leben noch immer in Camps. Was braucht es für die Rückkehr in die Heimat?

Zemfira Dlovani: Die Bedingungen, unter denen die Menschen dort seit über acht Jahren leben, sind nicht hinnehmbar. Die meisten wollen zurück, können aber nicht, weil die Situation zu unsicher ist. Es braucht mehr Hilfe und internationalen Druck auf den Irak, den Wiederaufbau zu unterstützen. Ohne diesen ist Aufarbeitung nicht möglich.