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Ampel setzt Wahlrechtsreform durch : Der Streit um die Sitze

Union und Linke sind empört über die Ampel-Reform zur Begrenzung der Abgeordnetenzahl. Die Koalition sieht das naturgemäß anders.

20.03.2023
2023-11-23T17:38:38.3600Z
3 Min
Foto: picture-alliance/photothek/Florian Gaertner

Weniger Stühle im Plenarsaal? Nach dem Willen der Koalition soll der Bundestag künftig 630 Abgeordnete haben statt wie heute 736.

Es ist nicht die erste Reform zur Reduzierung seiner Mitgliederzahl, die der Bundestag vergangenen Freitag beschlossen hat, aber die radikalste: Nach scharfer Kontroverse verabschiedete das Parlament einen Gesetzentwurf der Koalition zur Begrenzung seiner Abgeordnetenzahl auf 630. Neben dem Wegfall der sogenannten Grundmandatsklausel sieht der Gesetzesbeschluss dazu einen Verzicht auf Überhang- und Ausgleichsmandate vor. Dies kann dazu führen, dass künftig nicht alle Direktkandidaten, die in ihrem Wahlkreis die meisten Erststimmen erhalten, in das Parlament einziehen. Für die Vorlage votierten 395 Parlamentarier von SPD, Grünen und FDP sowie drei der AfD und ein fraktionsloses Mitglied des Bundestages. Dagegen stimmten neben 184 Unions- und 31 Linken-Abgeordneten auch 41 AfD-Parlamentarier sowie zwei Sozialdemokraten und drei fraktionslose Abgeordnete. 23 Parlamentarier enthielten sich, darunter 21 der AfD-Fraktion.

Überhangmandate fielen bisher an, wenn eine Partei mehr Direktmandate errang als ihrem Listenergebnis entsprach. Um das mit der Zweitstimme bestimmte Kräfteverhältnis der Parteien im Parlament wiederherzustellen, wurden diese Überhänge mit zusätzlichen Ausgleichsmandaten kompensiert. Dadurch stieg die Abgeordnetenzahl über die bisherige Sollgröße von 598 hinaus auf derzeit 736.

Dem Bundestag sollen künftig 630 Abgeordnete angehören, aktuell sind es 736

Mit der Neuregelung gibt es wie bisher 299 Wahlkreise und zwei Stimmen. Dabei entscheiden die Wähler mit der Zweitstimme für eine Parteiliste weiterhin über die proportionale Verteilung der Mandate an die Parteien. Mit der Erststimme werden wie bisher in den Wahlkreisen Direktkandidaten gewählt, die ein Mandat jedoch nur erhalten, wenn das Zweitstimmenergebnis ihrer Partei dies deckt. Stellt eine Partei mehr Wahlkreissieger, werden entsprechend weniger von ihnen bei der Sitzzuteilung berücksichtigt. Um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass Wahlkreissieger einen Sitz erhalten, hob die Koalition die Sollgröße des Bundestages von ursprünglich angestrebten 598 Sitzen auf 630 an.

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Die Grundmandatsklausel sieht vor, dass eine Partei auch dann entsprechend ihrem Listenergebnis im Bundestag sitzt, wenn sie weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen errungen hat, aber mindestens drei Direktmandate. Zuletzt profitierte davon Die Linke, die 2021 mit 4,9 Prozent Zweitstimmen, aber drei Direktmandaten in Fraktionsstärke ins Parlament einzog. Die CSU war zugleich in Bayern auf einen bundesweiten Zweitstimmenanteil von 5,2 Prozent und 45 Direktmandate gekommen.

Ein AfD-Gesetzentwurf, der zur Begrenzung der Abgeordnetenzahl auf 598 ebenfalls einen Wegfall der Grundmandatsklausel sowie der Überhang- und Ausgleichsmandate vorsah, fand keine Mehrheit, ebenso wie ein CDU/CSU-Antrag (20/5353). Die Union schlug darin vor, die Zahl der Wahlkreise auf 270 zu senken, die Regelgröße für Listenmandate auf 320 anzuheben, die Zahl unausgeglichener Überhangmandate von drei auf bis zu 15 zu erhöhen und die der für die Grundmandatsklausel relevanten Direktmandate von drei auf fünf.

Dobrindt wirft Ampel "großes Schurkenstück" vor

In der Debatte kritisierte Alexander Dobrindt (CSU) die Reform als falsch, fehlerhaft, verfassungswidrig und "großes Schurkenstück". Wenn direkt gewählte Abgeordnete nicht mehr in das Parlament einziehen, fördere dies Politikverdrossenheit. Durch die Abschaffung der Grundmandatsklausel wolle die Koalition Die Linke aus dem Parlament drängen und das Existenzrecht der CSU in Frage stellen. Unions-Fraktionschef Friedrich Merz (CDU) sagte, die Union werde "jederzeit jede Gelegenheit nutzen", das Wahlrecht wieder zu ändern; Ansgar Heveling (CDU) kündigte eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht an,

Auch Jan Korte (Linke) betonte, dass man sich vor dem Karlsruher Gericht wiedersehen werde. Er wertete die Reform als "größten Anschlag" seit Jahrzehnten auf das Wahlrecht. Davon profitierten SPD, Grüne und FDP, die zwei Oppositionsparteien "aus dem Bundestag politisch eliminieren" wollten, kritisierte er.

SPD sieht "einer der grundlegendsten" Reformen des Wahlrechts

Dagegen sprach Sebastian Hartmann (SPD) von "einer der grundlegendsten" Reformen des Wahlrechts, die überfällig sei. Entscheidende Punkte seien die "feste Größe" des Bundestages, ein einfaches Wahlrecht mit zwei Stimmen und der Erhalt der 299 Wahlkreise. Dabei werde eine Verzerrung des Zweitstimmenergebnisses zugunsten einzelner Gruppen ausgeschlossen.

Britta Haßelmann (Grüne) nannte die Reform fair und verfassungsgemäß. Indem die Wahlkreisergebnisse über die Zweitstimmen abgesichert sein müssen, gelte der Grundsatz, dass die Mehrheit im Parlament stellen könne, wer auch bei der Wahl die Mehrheit der Stimmen erhalten habe.

FDP: Verzicht auf Grundmandatsklauses birgt weniger verfassungsrechtliche Risiken

Konstantin Kuhle (FDP) sagte, der Verzicht auf die Grundmandatsklausel berge weniger verfassungsrechtliche Risiken als die Einführung einer neuen Grundmandatsklausel. Stephan Thomae (FDP) zeigte sich offen, nach der Grundentscheidung über die Reform zu diskutieren, "ob für die CSU hier eine Regelung getroffen werden muss".

Albrecht Glaser (AfD) betonte, das Konzept der Ampel sei mit dem AfD-Vorschlag nahezu identisch. Als falsch bezeichnete er Dobrindts "Vermutung" hinsichtlich der Auswirkung des Wegfalls der Grundmandatsklausel auf die CSU. "Die Anwendung ist nicht so, wie Sie glauben, dass sie sei", fügte er hinzu.

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