
Bundeswehr und NVA : Wie aus zwei Armeen eine Truppe wurde
Etwas Ähnliches hat es nie zuvor gegeben: Aus Bundeswehr und DDR-Volksarmee wurde mit dem 3. Oktober 1990 eine Truppe. Ein komplizierter Übergangsprozess begann.
Am weitesten waren die Musiker: Die 40-köpfige Militärkapelle, die am 3. Oktober 1990 anlässlich der formalen „Übernahme der Befehls- und Kommandogewalt“ in Strausberg bei Berlin Beethovens „Ode an die Freude“ spielte, bestand je zur Hälfte aus Angehörigen der wenige Stunden zuvor aufgelösten Nationalen Volksarmee (NVA) der ebenfalls nicht mehr existenten DDR und westdeutschen Soldaten. „Hier spielen Ost und West schon harmonisch zusammen“, lobte ein Offizier der Bundeswehr, fügte aber skeptisch hinzu: „Bei den harten Problemen wird alles viel schwieriger.“
Sämtliche Soldaten, die an diesem Mittwochnachmittag auf dem Platz vor dem ehemalige DDR-Verteidigungsministerium angetreten waren, trugen olivgrüne Alltagskluft, bis hin zu ihrem neuen Kommandeur, dem Drei-Sterne-General Jörg Schönbohm – denn für die Ostdeutschen unter ihnen gab es noch nicht genügend Dienstanzüge mit den typischen hellgrauen Jacketts, wie sie für einen Appell in Anwesenheit des Bundesministers der Verteidigung angemessen wären. Doch unbedingt sollte der Eindruck einer Zwei-Klassen-Gesellschaft beim Militär des neuen vereinigten Deutschlands vermieden werden.
Zwei-Plus-Vier-Vertrag sah 370.000 Soldaten für Deutschland vor
Etwas Ähnliches war noch nie zuvor versucht worden: zwei Armeen, die bislang zu einander gegenüberstehenden Militärbündnissen gehört hatten, zu einer gemeinsamen Truppe zusammenfassen.
Die dann auch gleich deutlich zu schrumpfen war. Denn die Bundeswehr verfügte 1990 über 495.000 Mann Sollstärke, die NVA von noch rund 90.000 Soldaten. Doch ab 1994 sollte Deutschland, so stand es im Zwei-plus-Vier-Vertrag, nur noch eine Armee von 370.000 Mann unterhalten.
Statt den vermeintlich einfachen Weg zu gehen und die NVA auf einen Schlag vollständig abzuschaffen, hatten sich die west- und die ostdeutsche Regierung auf einen komplizierten Übergang verständigt. Lediglich Politoffiziere, alle Angehörigen der Grenztruppen, SED-Kader unter den NVA-Soldaten sowie alle über 55-Jährigen waren noch vor dem 3. Oktober 1990 verabschiedet worden. Die verbleibenden rund 51.000 Berufs- und Zeitsoldaten sollten zunächst bis Ende 1990 weiterbeschäftigt werden, indem sie entweder mit großzügigen Übergangsregelungen ausscheiden oder sich um eine dauerhafte Übernahme in die Bundeswehr bewerben konnten. Die noch 39.000 Wehrpflichtigen absolvierten regulär den Rest ihrer Dienstzeit.
Organisieren sollte diesen Übergang als Chef des neu eingerichteten Bundeswehrkommando Ost der 53-jährige Schönbohm. Seine Truppe aus wenigen hundert westdeutschen Offizieren und knapp 90.000 vormaligen NVA-Angehörigen war zudem ausdrücklich nicht in die Kommandostruktur der Nato eingebunden – das hatte sich Polen ausbedungen.
NVA-Auflösung blieb ohne Schwund an militärischem Gerät
Warum wurde dieser absehbar aufwendige und damit teure Übergang gewählt? Die NVA verfügte am Ende über immerhin 1,3 Millionen Pistolen und Gewehre sowie mehrere Milliarden Schuss Munition, dazu zehntausende Fahrzeuge aller Art. Am sichersten waren diese Bestände, wenn die bisher bestehenden Strukturen erhalten blieben. Tatsächlich gab es im Zuge der Auflösung der NVA kaum Schwund an militärischem Gerät, im Gegensatz zu anderen Armeen des vormaligen Ostblocks.
Bis zum 30. Juni 1991 hatte Schönbohms Bundeswehrkommando Ost seine Aufgabe bewältigt: Die ihm ehemals unterstellten Einheiten wurden in die normalen Bundeswehrstrukturen eingeordnet und er selbst als Inspekteur des Heeres und anschließend als Staatssekretär nach Bonn befördert. Ungefähr jeder zweite der 51.000 Ex-NVA-Berufssoldaten bewarb sich um eine Weiterverwendung in der Bundeswehr, genau genommen rund 11.700 als Offiziere, etwa 12.300 als Unteroffiziere und rund tausend als Mannschaftsdienstgrade. Während die weitaus meisten Kandidaten für die beiden unteren Laufbahnen übernommen wurde, traf das lediglich für die Hälfte der Offiziere zu.
Alle Übernommenen wurden zunächst Soldaten auf Zeit bis Ende 1992, außerdem um ein bis zwei Rangstufen herabgestuft. Doch sie konnten durchaus Karriere machen. So stieg Gert Gawellek, 1990 gerade 31 Jahre alt, bis 2014 zum Brigadegeneral auf - er dürfte der ranghöchste deutsche Offizier sein, der sowohl die sowjetische Frunse-Militärakademie als auch die Führungsakademie der Bundeswehr absolviert hat.
In den 1990er Jahren hatten knapp fünf Prozent der Truppe, insgesamt etwa 18.000 Mann, zuvor zur NVA gehört. Mehr als drei Jahrzehnte später sind nur noch wenige ehemalige Angehörige der DDR-Armee im aktiven Dienst der Bundeswehr.