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Foto: picture-alliance / dpa
Feierliche Schlüsselübergabe auf den blumengeschmückten Stufen: Viele Bürger verfolgten am 19. April 1999 die Einweihungsfeier vor dem Reichstagsgebäude.

Besondere Schlüsselübergabe : Berlin wird die politische Metropole Deutschlands

Am 19. April 1999 zieht der Bundestag wieder in das Reichstagsgebäude. Für Bundestagspräsident Thierse ist der Umzug die Chance, die innere Einheit zu vollenden.

17.04.2024
2024-04-17T15:57:21.7200Z
4 Min

„Es war wohl das, was man ein Geschichtsgefühl nennt“ - diesen Satz sagt der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) über den Moment, als er als Erster im neuen Reichstagsgebäude sprechen darf. Es ist Montag, der 19. April 1999, um 12 Uhr. Sonnenstrahlen fallen durch die neue Kuppel, die zum Wahrzeichen Berlins werden soll, in den Plenarsaal. „Das Reichstagsgebäude ist ein Symbol, aber kein eindeutiges. Es ist ein Symbol der Ambivalenzen und Vieldeutigkeiten in der deutschen Geschichte“, sagt Thierse. Dass der 14. Deutsche Bundestag künftig hier tagen wird, mache deutlich, dass alle Debatten, die Schlussstriche unter die deutsche Geschichte ziehen wollten, an diesem Ort ad absurdum geführt würden. Im Umzug von Bonn nach Berlin sehe er die Chance, die innere Einheit Deutschlands zu vollenden, sagt der Bundestagspräsident.

25 Jahre liegt diese erste Sitzung und die symbolische Schlüsselübergabe an Hausherrn Thierse nun zurück. Seitdem haben einige tausend Abgeordnete auf einem der blauen Sitze unter der Kuppel Platz genommen. Die nötigen Umbauten dafür hatten sich über acht Jahre hingezogen.

Die Entscheidung fällt knapp für Berlin

Die Entscheidung für den Umzug des Parlaments- und Regierungssitzes hatte der Bundestag nach fast zwölfstündiger Debatte am 20. Juni 1991 getroffen. Einigen Abgeordneten erschien das Reichstagsgebäude als historisch belastet, andere hingen am beschaulichen Bonn, wieder andere scheuten die enormen Kosten eines Umzugs. Als erster Redner der Berlin-Befürworter meldete sich Thierse zu Wort: Zur Debatte stehe die Frage nach der Identität des gemeinsamen deutschen Staates, sagte der damalige stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten. Zuvor hatte der Mitverfasser des Bonn-Antrags, Norbert Blüm (CDU), darauf verwiesen, dass der demokratische Neuanfang, „die friedlichste und freiheitlichste Epoche unserer Geschichte“ und die Westintegration untrennbar mit Bonn verbunden seien: „Bonn hat nicht seine Schuldigkeit getan und kann gehen“, so Blüm.

Um 21.49 Uhr verkündete Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) dann das mit Spannung erwartete Ergebnis der Abstimmung: Mit 338 zu 320 Stimmen, einer knappen Mehrheit von nur 18 Stimmen, votierte das Parlament für den Umzug nach Berlin.

Acht Jahre später war es so weit: Um 11.23 Uhr beim Festakt vor dem Reichstagsgebäude überreichte der britische Architekt Sir Norman Foster den symbolischen Schlüssel für das neue Parlamentsgebäude an Thierse. Foster sagte in seiner Ansprache, er habe bei der Ausschreibung des Wettbewerbs zunächst Zweifel gehabt, ob ein Ausländer für ein so bedeutsames Gebäude die Verantwortung übertragen bekommen würde, könne nun aber sagen, dass der gesamte Prozess von Fairness und Tatkraft geprägt gewesen sei. Es seien „ähnliche Gefühle wieder in der Luft“ wie bei der Verhüllung des Reichstagsgebäudes durch die Künstler Christo und Jeanne-Claude im Sommer 1995.

Erste Regierungserklärung im umgebauten Reichstagsgebäude

Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) betonte in seiner auf Thierses Rede folgenden ersten Regierungserklärung im Reichstagsgebäude zur „Vollendung der Einheit Deutschlands“ mehr die Kontinuität als den Neuanfang: „Wir gehen nicht von Bonn nach Berlin, weil wir etwa in Bonn gescheitert wären. Die gelungene Bonner Demokratie, die Politik der Verständigung, der guten Nachbarschaft, die feste Verankerung Deutschlands in Europa und im Atlantischen Bündnis, aber auch die Ausstrahlung eines Lebens in Freiheit – all das hat dazu entscheidend beigetragen, dass die Berliner Republik im geeinten Deutschland möglich wurde.“ Überwunden seien aber weder das Ost-West-Gefälle noch die „Mauer in den Köpfen und gelegentlich in den Herzen“, so Schröder weiter.

„Die Tatsache, dass wir als deutsches Parlament heute unsere Arbeit aufnehmen können, hat viele Gründe und viele haben daran mitgewirkt, aber einer vielleicht doch mehr als andere“ merkte der Unionfraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble (CDU) an und dankte Altkanzler Helmut Kohl (CDU): Ohne sein Festhalten daran, dass die „deutsche Frage“ offen blieb, so lange das Brandenburger Tor zu war, und ohne das entschlossene Ergreifen der Chance, als die Geschichte sie bot, wären wir heute nicht hier, sagte Schäuble.

Redner zeigen Probleme bei der inneren Einheit Deutschlands auf

Die Probleme der inneren Einheit wurden auch von weiteren Rednern angesprochen: FDP-Fraktionschef Wolfgang Gerhardt forderte eine aktive Bürgerbeteiligung und Anpassung an die neuen Realitäten und Chancen des globalen Wandels: „Der Staat sind wir. Es geht also auch darum, wie wir uns verhalten“, sagte Gerhardt.


„Demokratie ist keine Sache von Berufsdemokraten.“
Werner Schulz (Bündnis 90/Die Grünen)

Der DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz (Bündnis 90/Die Grünen) betonte, dass die Menschen aus den neuen Bundesländern besser einbezogen und auch als gleichberechtigte Staatsbürger anerkannt werden müssten. „Demokratie ist keine Sache von Berufsdemokraten. Der Ruf ' Wir sind das Volk!' sollte nicht als historische Episode, sondern als Daueranspruch verstanden werden“, appellierte Schulz.

Umzugswagen rollten erst in der parlamentarischen Sommerpause

PDS-Fraktionschef Gregor Gysi verwies in der Debatte auf den aus Sicht seiner Fraktion fehlenden Respekt für Menschen in Ostdeutschland: „Vieles ging unter, und vieles, was blieb, blieb nicht aus Notwendigkeit, sondern im Wege der Gnade. Das gilt für die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Kultur. Die Ostdeutschen wollten aber nicht Gnade, sondern Respekt“, sagte er.

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Als Berliner wolle er mit einer Bitte schließen: „Kommen Sie einfach gern. In Berlin kulminieren alle Widersprüche dieser Gesellschaft und auch der Vereinigung.“

Ins Rollen kam der Umzug vom Rhein an die Spree erst in der parlamentarischen Sommerpause. Die erste reguläre Sitzung des Bundestages in Berlin fand am 8. September 1999 statt.