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Die Konstituierung des Parlamentarischen Rates in der Pädagogischen Akademie am 1. September 1948.

Festakt im Bonner Museum Koenig : Geburtsstunde des Grundgesetzes

Vor 75 Jahren nahm der Parlamentarische Rat seine Arbeit auf, um ein Grundgesetz auszuarbeiten. Dem Jubiläum wurde mit einem Festakt in Bonn gedacht.

11.09.2023
2024-05-02T11:42:48.7200Z
7 Min

Es ist kühl und regnerisch in Bonn an diesem ersten Septembertag des Jahres. Und doch gibt es einen Ort in der Stadt, an dem man fast vergessen könnte, dass der Herbst vor der Tür steht. Im naturkundlichen Museum Koenig, nur fünf Gehminuten vom Rheinufer entfernt, sind Szenen einer afrikanischen Savanne nachgestellt: An einem künstlichen Wasserloch erfrischt sich ein ausgestopftes Zebra, während ein präparierter Löwe unweit auf der Lauer liegt. Eine lebensgroße Giraffe knabbert an den Wipfeln eines künstlichen Baumes, eine Elefantenkuh und ihr Junges beobachten die Szene.

An diesem Freitagvormittag werden die ausgestopften Tiere Zeugen eines ganz besonderen Festaktes. Rund 65 hochrangige Gäste sind an diesem Tag zusammengekommen, um den 75. Jahrestag der konstituierenden Sitzung des Parlamentarischen Rates zu begehen. Jenes Gremiums, dessen Aufgabe es ab dem 1. September 1948 war, ein Grundgesetz, für einen neuen westdeutschen Staat auszuarbeiten - die künftige Bundesrepublik.

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Im Anzug zwischen afrikanischen Wildtieren: Die Feierstunde zum 75. Jahrestag der konstituierenden Sitzung des Parlamentarischen Rates fand im Museum Koenig in Bonn statt.

Feierstunde in Bonn vor Savannenkulisse

Bereits der Name "Grundgesetz" sollte auf dessen provisorischen Charakter verweisen. So war ursprünglich vorgesehen, dass der Gesetzestext mit der Wiedervereinigung Deutschlands und der Verabschiedung einer gesamtdeutschen Verfassung seine Gültigkeit verliert. Doch dazu kam es nie. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) betont in ihrer Begrüßungsansprache zur Feierstunde: "Aus dem Provisorium Grundgesetz ist eine Erfolgsgeschichte geworden: die weithin geschätzte Verfassung unseres Landes".

Neben der Bundestagspräsidentin sind auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Bundesratspräsident Peter Tschentscher (SPD) sowie der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Stephan Harbarth (CDU) und die Bonner Oberbürgermeisterin Katja Dörner (Bündnis 90/Die Grünen) gekommen. In dunklen Anzügen und schicken Kostümen sitzen sie inmitten der Tiere in der Savannenkulisse, lauschen den Festreden und einem Streichquartett, das Stücke von Ludwig van Beethoven und Paul Hindemith spielt.

Neubeginn der Bundesrepublik

Der Ort scheint auf den ersten Blick exotisch für ein Treffen der Vertreterinnen und Vertreter deutscher Verfassungsorgane und doch könnte er aufgrund seiner geschichtsträchtigen Vergangenheit passender nicht sein. Denn an derselben Stelle fand am 1. September 1948 die feierliche Eröffnungsfeier des Parlamentarischen Rates statt.

Das Museum Koenig als Veranstaltungsort wurde schlicht deshalb gewählt, da es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eines der wenigen unbeschädigten repräsentativen Gebäude in Bonn war. Damals hielten die Organisatoren die ausgestopften Tiere jedoch für unpassend und so wurden diese kurzerhand in Seitengänge verfrachtet und hinter dunklen Vorhängen versteckt.

Erinnern an die 60 Väter und die vier Mütter des Grundgesetzes

Einzig die Giraffe mit ihrem langen Hals habe sich nicht verhüllen lassen und daher als "Zeitzeugin" dem Festakt beigewohnt, heißt es. Schnell erhielt sie so den Beinamen "Bundesgiraffe". Diese Anekdote hält sich bis heute hartnäckig - ist tatsächlich aber eine Zeitungsente. Auch die Giraffe wurde 1948 hinter einem Vorhang versteckt. Dennoch muss der Ort eine gewissen Wirkung auf die Mitglieder des Parlamentarischen Rats gehabt haben. So schrieb Carlo Schmid, der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Rat über die Veranstaltung: "Unter Bären, Schimpansen, Gorillas und anderen Exemplaren exotischer Tierwelt kamen wir uns ein wenig verloren vor."

75 Jahre später wird Schmid und der anderen 60 "Väter" und der vier "Mütter" des Grundgesetzes, die aus den elf Landtagen der westdeutschen Besatzungszonen nach Bonn entsandt worden waren, gedacht.


„Man stritt um die Ausgestaltung des Föderalismus, um die Stellung der Kirchen und nicht zuletzt um das Wahlrecht.“
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD)

So erinnert Bas daran, dass im Parlamentarischen Rat Abgeordnete mit gegensätzlichen Positionen aufeinandertrafen. "Man stritt um die Ausgestaltung des Föderalismus, um die Stellung der Kirchen und nicht zuletzt um das Wahlrecht."

Festhalten am Ziel der deutschen Einheit

Und dennoch habe die meisten Abgeordneten über ihre politischen Gegensätze hinweg eines geeint: "Die Erfahrung des Scheiterns der Weimarer Republik und das staatliche Unrecht, das viele während der NS-Diktatur erfahren mussten". Bas hebt insbesondere die Arbeit der Sozialdemokratin Elisabeth Selbert hervor. Ihrem unermüdlichen Einsatz sei es zu verdanken, dass der Satz "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" im Grundgesetz stehe. Doch die Bundestagspräsidentin betont auch, dass nicht alle Deutschen 1949, mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes, das "Glück der Chance zum demokratischen Neubeginn" hatten. So mussten sich die Bürgerinnen und Bürger der DDR ihre Freiheit und demokratische Selbstbestimmung 1989 erst selbst erkämpfen.

Foto: DBT/Werner Schüring

Die Spitzen der deutschen Politik bei der Feierstunde in Bonn.

Einer, der, wie er selbst sagt, "damals und in den folgenden Jahren immer wieder sehnsuchtsvoll in Richtung Westen" geblickt hat, ist der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck. In seiner Festrede sagt er, er habe sich hingezogen gefühlt zu einer Demokratie, wie sie am Rhein praktiziert wurde. Gauck lobt daher die Mitglieder des Parlamentarischen Rates. Sie hätten nicht nur den Westen im Blick gehabt, sondern "sie hielten explizit fest am Ziel der deutschen Einheit und wollten vorbereitet sein für den Tag einer Wiedervereinigung." Am Ende sei ein Gesetzestext entstanden, der heute ein "wegweisendes Verfassungsdokument" ist. Daher würdigt Gauck das Grundgesetz als "Daseinsgewissheit, die nicht national begründet ist. Sie basiert vielmehr auf Rechten und Werten, die wir mit unterschiedlichen Menschen in Deutschland und anderen Völkern teilen".

Und eine solche Verfassung sei es wert, verteidigt zu werden, appelliert der Bundespräsident a.D. an die Anwesenden. Die Bürgerinnen und Bürger seien es, die eine verantwortungsbewusste Rolle annehmen müssten und den Staat nicht nur als "Fürsorgeinstitution" begreifen dürften. Denn es hänge von den Menschen ab, dass die Verfassung im Sinne von Freiheit und Demokratie, Menschenrechten und Frieden genutzt werde. So müsste sich die Bevölkerung der Polarisierung und Radikalisierung widersetzen und die Rechtsstaatlichkeit ihres Landes verteidigen: "Es liegt an uns, wie energisch wir widersprechen, wenn die Würde des Menschen angetastet wird", sagt Gauck.

Werte, die es zu schützen gilt

Auch wenn dem Gesetzgeber ein gewisser Spielraum zur Ausgestaltung der Verfassung gegeben wurde, sind die wichtigsten Bestimmungen des Grundgesetzes durch die sogenannte Ewigkeitsklausel geschützt. So ist unter Artikel 79 Absatz 3 festgelegt, dass die Menschenwürde, das Demokratie- und Rechtsstaatlichkeitsprinzip sowie der Föderalismus als Staatsform Deutschlands nicht aufgehoben werden können. Diese gesetzliche Vorgabe wurde von den Verfasserinnen und Verfassern des Grundgesetzes als Reaktion auf die NS-Diktatur aufgenommen.

Andere Artikel sind jedoch veränderbar und jede neue Generation konnte über die Jahre hinweg ihre eigenen Werte in den Text einfließen lassen, um auf neue politische Herausforderungen reagieren zu können. So ist heute etwa jeder zweite Artikel anders als 1949. Auch Jugendliche aus Potsdam und Euskirchen haben Ideen, wie das Grundgesetz noch besser werden könnte. Anlässlich des Festaktes setzten sie sich mit dem Gesetzestext auseinander. In einem Workshop mit dem Titel "Die Freiheit, ich zu sein! Was das Grundgesetz mit mir zu tun hat." sind Briefe und Collagen über die individuelle Bedeutung des Gesetzestextes für die Jugendlichen entstanden.

Jugendliche fordern, niedergeschriebene Rechte in der Realität besser umzusetzen

In ihren Texten gratulieren sie dem Grundgesetz zum langjährigen Bestehen. Gleichzeitig fordern viele von ihnen, dass die niedergeschriebenen Rechte in der Realität besser umgesetzt werden sollten.

So sagt die 16-jährige Fenja aus Euskirchen: "Man könnte das Grundgesetz teilweise modernisieren, so sollte noch mehr auf den Schutz der Umwelt und die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen geachtet und auch auf Rechte von LGBTQ-Personen Rücksicht genommen werden".

Außerdem stehe zwar im Grundgesetz, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind, die Wirklichkeit sehe jedoch anders aus. Denn immer noch würden Frauen schlechter bezahlt und seltener in Führungspositionen arbeiten.

Foto: DBT/Werner Schüring

Was unternimmt die Politik konkret? Jugendliche im Gespräch mit Bundeskanzler Olaf Scholz (2.v.r.) und Bundesratspräsident Peter Tschentscher (3.v.l.).

Die Briefe und Collagen sind auch beim Festakt im Museum Koenig ausgestellt. Dort kommen die Jugendlichen auch mit den geladenen Gästen ins Gespräch. Die Teenager haben viele Fragen an die Spitzen der deutschen Politik: Sie wollen von Olaf Scholz und Bärbel Bas unter anderem wissen, was sie dafür tun, dass diese Generation nicht die letzte ist, wie Olaf Scholz zum Feminismus steht und was die Politik unternimmt, damit Flüchtlinge in Deutschland noch besser integriert werden.

Bis zur Verabschiedung des Grundgesetzes am 8. Mai 1949 vergingen neun Monate

Die Feierlichkeiten enden jedoch nicht an diesem Tag. Für das Grundgesetz und die Bundesrepublik ist dieser 1. September erst der Auftakt eines ganzen Jubiläumsjahres - 75 Jahre Grundgesetz und 75 Jahre Deutscher Bundestag werden noch bis zum September 2024 gefeiert.

Auch für die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates ging die Arbeit nach dem Festakt 1948 erst richtig los. Unweit des Museums Koenig nahmen sie noch am selben Tag in der Pädagogischen Akademie, dem Gebäude, das später umgebaut und erweitert als Bundeshaus Tagungsort des Bundesrats und Bundestages wurde, ihre Arbeit auf. Neun Monate dauerte es, bis das Grundgesetz am 8. Mai 1949 verabschiedet werden konnte.

Fotografin begleitete Entstehung des Gesetzestextes

Damit die Geburtsstunde der Verfassung des neuen jungen Deutschlands noch auf den vierten Jahrestag der Kapitulation Hitler-Deutschlands fiel, wurden Reden unterbrochen. Um fünf Minuten vor Mitternacht des 8. Mai wurde abgestimmt. Am Ende votierten 53 Abgeordnete dafür, zwölf dagegen.

Begleitet wurde die Entstehung des Grundgesetzes fotografisch von Erna Wagner-Hehmke. In rund 4.000 Aufnahmen fing sie das Geschehen ein.

Besucht man heute den historischen Ort, an dem über das Grundgesetz abgestimmt wurde, kann man vor den Eingangstüren zum späteren Plenarsaal des Bundesrates einige Aufnahmen von Wagner-Hehmke bestaunen. Eine kleine Ausstellung erinnert an die Entstehungsgeschichte der heutigen Verfassung. Dort löst sich dann auch das Rätsel, welches Tier nun wirklich der Feierstunde zum Auftakt des Parlamentarischen Rates beiwohnte. Es war das Präparat eines "Säbelschnäblers". Dieser befand sich unverhüllt in einer Vitrine auf der Galerie des Museums und konnte den Festakt von oben beobachten.

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