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Vereinigte Staaten : Auflehnung gegen die kulturelle Auslöschung

Aram Mattiolis glänzende Darstellung über die Geschichte indigenen Widerstandes im 20. Jahrhundert.

30.05.2023
2024-02-28T14:26:19.3600Z
4 Min

Ende Februar 1973 wird die amerikanische Öffentlichkeit von Fernsehbildern aufgeschreckt, die an einen skurrilen Neo-Western erinnern: Eine Gruppe bewaffneter Angehöriger des "American Indian Movement" besetzten das kleine Dorf Wounded Knee in der Pine Ridge Reservation der Oglala-Lakota im Bundesstaat South Dakota und nehmen Geiseln. Primär wollen sie die Absetzung des korrupten Reservationsvorsitzenden Dick Wilson erreichen.

Die US-Behörden lassen den Ort von einem Großaufgebot von FBI-Beamten umstellen und mehrfach von Kampfjets überfliegen, es kommt zu wilden Scheißereien, Toten und Verletzten. Über zwei Monate hält das Drama an. Am Ende müssen die indianischen Kämpfer aufgeben. Die verstörenden Bilder gehen um die Welt.

Katastrophale soziale Zustände in den indianischen Reservationen

Besondere Brisanz haben die Vorgänge, weil es in Wounded Knee im Dezember 1890 zu einem der brutalsten Massaker in der amerikanischen Geschichte gekommen war. Die US-Armee hatte bis zu 350 Angehörige der Lakota regelrecht abgeschlachtet. Der amerikanische Publizist Dee Brown hatte dieses Massaker als Höhe- und Abschlusspunkt des Genozids an den amerikanischen Ureinwohnern mit seinem 1970 erschienen Bestseller "Bury my Heart at Wounded Knee" (Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses) erstmals in das öffentliche Bewusstsein innerhalb und außerhalb der USA gerufen und zu einem veränderten Blickwinkel auf die vermeintlich glorreiche Eroberung des "Wilden Westens" durch weiße Siedler beigetragen.

In Wounded Knee geht es im Februar 1973 deshalb um deutlich mehr als die Absetzung eines korrupten indianischen Politikers. Es geht um die katastrophalen sozialen Zustände in den indianischen Reservationen überall in den Vereinigten Staaten, es geht um gewaltsame Übergriffe der weißen Mehrheitsgesellschaft, um die Missachtung vertraglich zugesicherter Rechte, um den Zwangsverkauf von Land, um kulturelle Unterdrückung, um die Sterilisation von indigenen Frauen ohne deren Wissen bei Operationen, um die Gängelungen und Schikanen durch die Bundesbörden, kurz: Es geht um all das Unrecht, das die indigenen Ureinwohner der USA auch rund 80 Jahre nach dem Ende der sogenannten "Indianerkriege" erleiden müssen.

Autor präsentiert Geschichte ihrer Selbstermächtigung

Dieses Unrecht beschreibt der Schweizer Historiker Aram Mattioli in seinem hervorragend recherchierten und geschriebenen Buch "Zeiten der Auflehnung" eindrücklich. Ab der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert habe die US-Regierung in Washington ein Ethnozid an den indigenen Völkern begangen. Dass diese Politik der "kulturellen Auslöschung" letztendlich nicht von Erfolg gekrönt war, ist in erster Linie jenem indigenen Widerstand im 20. Jahrhundert zu verdanken, den Mattioli erstmals im deutschsprachigen Raum in all seinen unterschiedlichen Facetten beschreibt und analysiert. Es ist das große Verdienst des Autors, dass er die indigenen Völker der USA eben nicht als wehrlose Opfer der Historie beschreibt, sondern die Geschichte ihrer Selbstermächtigung präsentiert, die neben vielen Niederlagen auch erhebliche Erfolge aufweisen kann. Zeitlich knüpft der Historiker mit "Zeiten der Auflehnung" nahtlos an sein 2017 erschienenes Buch "Verlorene Welten" zur Geschichte der Indianer Nordamerikas von 1700 bis 1910 an.

Mattioli kann abseits der Geschehnisse in Wounded Knee als Ausdruck militanten Widerstandes auf dem Höhepunkt der sogenannten Red-Power-Bewegung von erstaunlichen Dingen berichten: Wer weiß schon, dass 1923 eine Delegation der "Six Nations", in Deutschland besser bekannt als Irokesen-Konföderation, nach Genf reiste, um vor dem Völkerbund unter Berufung auf das von US-Präsident Woodrow Wilson propagierte Selbstbestimmungsrecht der Völker auf nationale Unabhängigkeit zu pochen? Oder dass wiederum diese "Six Nations" 1942 Deutschland, Italien und Japan auf den Stufen des Kapitols in Washington offiziell den Krieg erklärten, um diesen Anspruch zu untermauern?

Empathie und Respekt gegenüber indianischen Völkern und Kulturen

Ganz ohne Zweifel zeugen die Bücher Mattiolis von Empathie und Respekt gegenüber den indianischen Völkern und ihrer Kulturen. Doch zu keinem Zeitpunkt verliert er deswegen die nötige Distanz und Objektivität, die eine wissenschaftliche Darstellung auszeichnen. In der mitunter hitzigen Debatte über die angemessenen Bezeichnungen für die indigenen Völker bezieht er beispielsweise zwar eindeutig Stellung, mahnt einen reflektierten Sprachgebrauch an und verbannt Begriffe wie "Häuptling", "Halbblut" oder "Stämme" in die "Aservatenkammer kolonialer Sprache", die "grundsätzlich zu vermeiden" seien. Umgekehrt weist er darauf hin, dass weder im Amerikanischen noch im Deutschen ein allseits akzeptierter Oberbegriff für die Gesamtheit indigener Völker in den USA existiert. Im Deutschen sei der Begriff "Indianer" nicht eindeutig pejorativ konnotiert und könne aus Sicht von Experten durchaus verwendet werden. Umgekehrt gebe es gute Gründe, auf diesen Begriff wegen "seines ideologischen Ballastes und der verquasten Assoziationen" zu verzichten. Er selbst verwendet durchgehend die Bezeichnung "American Indian" oder "First Peoples". Zugleich warnt Mattioli angesichts der "semantischen Uneindeutigkeit" vor "Besserwisserei" und zitiert einen Lakota, der lapidar feststellt, sein Volk schere sich nicht groß um Namen. "Wir sehen die Dinge eher locker."

Aram Mattioli:
Zeiten der Auflehnung.
Eine Geschichte des indigen Widerstandes in den USA.
Klett-Cotta Verlag,
Stuttgart 2023;
464 Seiten, 28,00 €