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Rezension: China nach Mao : Die Kaiser sind nackt

Der Historiker und Sinologe Frank Dikötter hinterfragt die Erfolgsmeldungen der aufstrebenden Supermacht China.

09.11.2023
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4 Min

Als die Bundesregierung im Sommer ihre China-Strategie vorlegte, war darin viel von "systemischer Rivalität" die Rede, für die Union im Bundestag ist der Aufstieg Chinas die "zentrale, epochale Herausforderung des 21. Jahrhunderts". Nicht wenige Stimmen warnen seit Jahren gar vor der Gefahr einer "Thukydides-Falle", eine Krieg erahnen lassende Konstellation einer aufstrebenden Weltmacht, die der alten den Platz streitig macht.

Foto: picture alliance/EPA-EFE

Besucher des Museums der Kommunistischen Partei Chinas in Peking vor einem Porträt von Staatspräsident Xi Jinping.

Was aber, wenn sich die Erzählung von der aufstrebenden Supermacht China gar nicht so widerspruchsfrei schildern lässt, wie es einige Fanfarenklänge vermuten lassen? Der niederländische Historiker und Sinologe Frank Dikötter gießt mit seinem Buch zum Aufstieg der Volksrepublik nach Mao gehörig Wasser in den Wein. Seine zentrale These: Die Chinesen haben ihren imposante Aufholjagd nicht wegen, sondern vor allem trotz der ideologischen Prämissen und Entscheidungen der KP-Führung bewerkstelligt.

600 Dokumente aus Archiven, Zeitungsartikel und unveröffentlichte Memoiren ausgewertet

Von der Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen in den südlichen Küstenregionen vor 45 Jahren unter Deng Xiaoping - wie im damaligen Fischer-Städtchen Shenzhen -, die ausländisches Kapital anlocken sollten, bis zum Aufstieg zu einer führenden Industriemacht mit globalen Ambitionen heute: Es gebe dahinter keinen Masterplan, keine Staatskunst, sondern die "Flickschusterei einer Planwirtschaft" samt "abrupter Kurswechsel sowie endloser Machtkämpfe hinter den Kulissen", so Dikötter. "Kein Mensch weiß irgendetwas über China, einschließlich der chinesischen Regierung", zitiert er die Worte des China-Kenners James Palmer.

Dikötter stützt seine Analyse auf die Auswertung von 600 Dokumenten aus Stadt- und Lokalarchiven, auf Zeitungsartikel und auch auf unveröffentlichte Memoiren, darunter das Tagebuch von Maos Privatsekretär Li Rui. In einem Punkt haben die KP-Funktionäre nie einen Zweifel gelassen an ihrem Kurs der "Reform und Öffnung" seit 1978: Das politische Monopol, der Zugriff auf die Produktionsmittel bleiben in der Hand der Partei: "Was wir einrichten, sind Sonderwirtschaftszonen, keine Sonderpolitikzonen." So brachte es Reformer-Premier Zhao Zyang 1980 auf den Punkt.

Gesamtverschuldung der Volksrepublik: 280 Prozent des BIP

Doch die fehlende Rechtsstaatlichkeit, der Durchgriff der KP auf das Marktgeschehen, eine Regierung, die sich keinem freien Wählervotum zu stellen hat und das Fehlen einer freien Presse als Wächter und Korrektiv - all das geht für Dikötter zulasten der Effizienz und der Nachhaltigkeit des chinesischen Wachstumsmodells. Auf 280 Prozent des Bruttoinlandproduktes beziffert der Autor die Gesamtverschuldung der Volksrepublik. "Im Grunde ist Chinas Wirtschaft ganz auf Spekulation aufgebaut, und alles ist überbewertet", so habe das 2019 der Vizedirektor der Chinesischen Volksbank ausgedrückt.

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Chinas Führung schreibt sich auf die Fahnen, das Land nach anderthalb Jahrhunderten westlicher Demütigung wieder auf Kurs gebracht und zu neuem Wohlstand verholfen zu haben. Dikötter zeigt nun aber, dass dieses Aufstiegsversprechen nicht für alle Chinesen gilt und im Kern teils bis heute auf einer Heerschar billiger Arbeitskräfte ohne Rechte und Gewerkschaften (sie wurden 1982 verboten) beruht, auf einem Raubbau an der Natur, auf systemimmanenter Korruption, auf Buchungstricks und geschönten Erfolgsmeldungen.


„Was wir einrichten, sind Sonderwirtschaftszonen, keine Sonderpolitikzonen.“
Zhao Zyang, ehemaliger Premierminister Chinas

Bereits die Annäherung zwischen Peking und Washington in den 1970er Jahren fußte Dikötter zufolge auf einem geopolitischen Missverständnis, "dass nämlich die USA eine Macht im Niedergang sei". Hinzu sei ein zweites Missverständnis getreten, "dass die Volksrepublik, sobald sie sich wirtschaftlich entwickelt habe, zu einer demokratischen Staatsform aufblühen werde". Das könne man längst nicht mehr so stehen lassen, schreibt Dikötter. Und eigentlich hätte man das seit der blutigen Niederschlagung der Studentenproteste auf dem Tian'anmen-Platz im Frühjahr 1989, auch wissen können. Damals starrte die KP-Führung mit Ferngläsern über den Dächern von Zhongnanhai auf die Demonstranten. Angesichts des Tauwetters in Moskau und in Osteuropa standen ihnen die Haare zu Berge. Nur China könne den Sozialismus retten, lautet nun ihr Motto. Und für Deng Xiaoping, inzwischen die graue Eminenz hinter den Kulissen, war klar: "Nur der Sozialismus kann China retten, und nur der Sozialismus kann China entwickeln."

Auch ein anderes China ist denkbar

Lesenswert ist Dikötters Buch auch deshalb, weil es über die Jahrzehnte das Aufflammen eines starken chinesischen Eigensinns registriert, den Weg Oppositioneller in- und außerhalb des Apparats nachzeichnet: Auch ein anderes China, eines mit weniger Korruption und unabhängigen Gerichten, ist denkbar. Im Systemwettstreit, in Chinas mit militärischen Drohungen unterlegten Ambitionen in der Straße von Taiwan und im Westpazifik sieht Dikötter heute Zeichen der Hybris. Ob Dollar, Erdöl oder globale Märkte, China sei tief in die von den USA geprägte Weltordnung eingebunden. Während Deng noch geraten habe, "sich zurückzuhalten und den geeigneten Zeitpunkt abzuwarten", habe sich die Führung heute "mit einem Giganten angelegt".

Wie denn die Folgen der Französischen Revolution für die Weltgeschichte zu bewerten seien, soll sich Henry Kissinger einst bei Chinas Premierminister Zhou Enlai erkundigt haben. Es sei noch "zu früh, um das zu beurteilen", lautete dessen Antwort. Sie gilt auch heute für China selbst, so lässt sich Dikötters Analyse wohl verstehen: Ob das chinesische Modell den Westen dauer- und ernsthaft herausfordert, auch das muss sich erst noch erweisen.

Frank Dikötter:
China nach Mao.
Der Aufstieg zur Supermacht.
Klett Cotta,
Stuttgart 2023;
464 Seiten, 30,00 €